F: Ermächtigung wird manchmal als „Erlaubnis zum Praktizieren“ beschrieben, ist das korrekt?
Ngakma Shardröl: In gewisser Hinsicht, aber ich würde sagen, dass es eher eine Einladung zum Praktizieren ist oder eine Gelegenheit eine spezielle Praxis aufzunehmen.
F: Ist das die eigentliche Funktion einer Ermächtigung?
Ngakma Shardröl: Du meinst „die Erlaubnis“?
F: Ist das die einzige Funktion?
Ngakma Shardröl: Nein.
F: Was passiert, wenn ich ohne Ermächtigung eine Praxis praktiziere?
Ngakma Shardröl: Einige Praktiken, wie gewisse Mantras, z.B. Om Mani Peme Hung, können ohne Ermächtigung praktiziert werden. Sie sind allgemein verfügbar geworden. Für diejenigen, für die man eine Ermächtigung haben sollte, ist es aber wahrscheinlich, dass die Praxis ohne Ermächtigung weniger wirksam oder wirkungslos wird.
F: Bedeutet keine Erlaubnis zu haben, in die Hölle kommen?
Ngakma Shardröl: Nein. Das hört sich für mich mehr nach Christentum an.
F: Oder ist es einfach so, dass die Praxis ohne Ermächtigung wirkungslos ist?
Ngakma Shardröl: Ja, das trifft eher zu.
F: Wie erfährt ein Schüler, eine Schülerin durch eine Ermächtigung eine Veränderung, die ohne diese nicht möglich wäre?
Ngakma Shardröl: Nun, im Falle der Yidam-Praxis ist es idealerweise so, dass die Ermächtigung dem Studenten eine Gelegenheit gibt, den Yidam von Angesicht zu Angesicht zu treffen und die Praxis vom Yidam zu erhalten. Das sollte von einem gewissen Gefühl von ‘je ne sais quoi“ durchdrungen sein.
F: Bleibt die Praxis wirkungslos, wenn der Schüler während der Ermächtigung nicht die angemessene Erfahrung macht?
Ngakma Shardröl: Nein, die Erfahrung ist auch dann vorhanden, wenn der Schüler sie nicht wahrgenommen hat. Sie kann später spontan auftauchen. Sie ist wie ein Samen.
F: Ist es Zeitverschwendung trotzdem zu praktizieren oder macht die Praxis an sich genügend experimentellen Sinn, dass sie für den Schüler nützlich ist und allenfalls später zum Resultat führt?
Ngakma Shardröl: Die Ermächtigung ist wie eine Zündung, aber das Resultat wird durch das wirkliche Praktizieren erreicht.
F: Weshalb ist die Ermächtigung essentiell?
gakma Shardröl: Einerseits um eine direkte Verbindung zum Yidam herzustellen. Und als solche ist es eine der Möglichkeiten den erleuchteten Geist in einer anderen Form zu erfahren
F: Wenn die Übertragung des erleuchteten Geistes der Hauptaspekt der Ermächtigung ist, weshalb braucht es dann für jede Praxis eine eigene Ermächtigung? (vorausgesetzt, dass alle Vajrayana Praktiken denselben erleuchteten Geist als Frucht haben)?
Ngakma Shardröl: Weil es sich um separate Methoden handelt und weil es sich dabei möglicherweise exakt um das handelt, was eine bestimmte Person zur bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort benötigt. Yidams sind unterschiedliche Formen desselben Geistes, aber als Form treten sie mit den verschiedenen Formen des verblendeten Geistes in Verbindung.
F: Ist es richtig zu sagen, dass der Lama während einer Ermächtigung zum Yidam wird und der Lama/Yidam die Fähigkeit zur Praxis auf magische Weise auf die Schüler überträgt?
Ngakma Shardröl: Ja, der Lama taucht in Form des Yidams auf, aber es ist dabei keine „Magie“ beteiligt. Die Idee ist, dass der Schüler, wenn er oder sie genügend offen ist, dem Yidam begegnen kann. Das ist wirklich möglich. Der Yidam ist nichts anderes als eine bestimmte Form erleuchteten Geistes und das, was uns durch eine Ermächtigung gegeben wird, ist eine Möglichkeit diese Erfahrung zu machen. Dann haben wir eine Verbindung zu dieser bestimmten Form von Praxis, die vorher nicht da war.
F: Wie funktioniert das?
Ngakma Shardröl: Magisch… ich mache nur einen Witz. Wenn du dem erleuchteten Geist direkt begegnest ist es möglich, dass du eine unübliche Erfahrung machst. Da gibt es diese Möglichkeit. Eines Tages erscheint vielleicht eine Form, die für dich geradezu perfekt ist und vielleicht passiert etwas, das für dich unvorstellbar war.
: Wie steht Ermächtigung in Beziehung zu Übertragung? (Manchmal werden diese Ausdrücke austauschbar verwendet aber das scheint nicht korrekt zu sein.)
Ngakma Shardröl: Alle Ermächtigungen sind Übertragungen, aber nicht alle Übertragungen sind Ermächtigungen. Eine Ermächtigung ist eine rituelle Übertragung.
F: So sind also alle Ermächtigungen Übertragungen?
Ngakma Shardröl: Ja.
F: Oder handelt es sich dabei um Gelegenheiten an denen, abhängig von der Kapazität des Schülers, Übertragung geschehen kann?
Ngakma Shardröl: Etwas passiert, selbst wenn der Schüler es nicht wahrnimmt.
F: Ist Übertragung immer die Übertragung von Rigpa?
Ngakma Shardröl: Nun, Übertragung des erleuchteten Zustandes, wenn es das ist, was Du meinst.
F: Was genau ist Guru Yoga?
Ngakma Shardröl: Lama’i Naljor – Vereinigung mit dem Geist des Lamas.
F: … Und was ist mit „Vereinigung meines Geistes mit demjenigen des Lamas“ genau gemeint?
Ngakma Shardröl: Es geht nicht um „die Vereinigung meines Geistes mit demjenigen des Lamas“ sondern „Vereinigung mit dem Geist des Lamas“. Wenn du dich mit dem Geist des Lamas verbindest, sind in diesem Moment „dein“ Geist und der Geist des Lamas nicht getrennt; es gibt dann nur den Geist. Die Bedeutung davon ist es, dieselbe Erfahrung wie der Lama zu machen.
F: Wie kann ich wissen ob „die Vereinigung mit dem Geist des Lamas“ stattfindet?
Ngakma Shardröl: Nun ich denke es könnte auch nur Phantasie sein, aber das ist wahrscheinlich ebenfalls nützlich. Du kannst diesbezüglich immer den Lama fragen.
F: Ich kenne verschiedene Praktiken, die als Guru Yoga bezeichnet werden. Diese haben keine offensichtlichen Ähnlichkeiten in Bezug auf das, was einem gesagt wird was man tun soll. Handelt sich dabei um Guru Yogas zum Zweck eines gemeinsamen Zieles oder gibt es eine nicht offensichtliche gemeinsame Struktur?
Ngakma Shardröl: Sie beinhalten alle die Vereinigung mit dem Geist des Lamas; das ist das, was sie gemeinsam haben.
F: Gibt es, nebst dem dass es mir gesagt wird, eine andere Möglichkeit herauszufinden, dass eine Praxis Guru Yoga ist?
Ngakma Shardröl: Wenn du einen Weg findest, es als Vereinigung mit dem Geist des Lamas zu sehen, kann es Lama’i Naljor sein. Es ist, wie wenn ich meine Western-Stiefel poliere; ich kann dann auf die Beobachtung zurückgreifen, wie Ngak’chang Rinpoche seine Western-Stiefel poliert und wie er mir die Übertragung gegeben hat (durch das Zeigen, wie man Western Stiefel poliert). Und wenn ich tatsächlich praktiziere, kann ich mich in dieser Zeitspanne beinahe als ihn erleben.
F: Wenn ich herausfinde, dass eine Praxis (für mich) die Funktion der Vereinigung meines Geistes mit dem Guru hat, macht es das zur Guru Yoga Praxis für mich?
Ngakma Shardröl: Sicher. Und es kann sich dabei um irgendeine Praxis handeln, wie du sicher bemerkt hast.
F: Es wird gesagt, dass alle Vajrayana Praktiken grundsätzlich Guru Yoga sind. Wenn das der Fall ist, weshalb sind einige Praktiken explizit als Guru Yoga angelegt?
Ngakma Shardröl: Nun, weil sie plakativ speziell und offensichtlich Guru Yoga und nicht das Praktizieren von „was auch immer“ mit der Sicht des Lama’i Naljor.
F: Meine Erfahrung der selbst-erscheinenden Praxis gleicht ziemlich meiner Erfahrung von Guru Yoga (in Bezug auf den Effekt, nicht die Form der Praxis). Sollte die Erfahrung des Selbst-Erscheinen verschieden von derjenigen des Lama’i Naljor sein?
Ngakma Shardröl: Es gibt keinen Grund, weshalb das der Fall sein sollte. Der Yidam ist eine Manifestation des Geistes des Lamas.
F: Wenn nicht, wie unterscheidet sich dann die Praxis des Selbst-Erscheinens vom Lama’i Naljor (außer in der Form)?
Ngakma Shardröl: Das ist es – nur in der Form.
F: Wenn es keinen anderen Unterschied gibt als die Form – und Guru Yoga wird mehr in Bezug auf das Resultat als die Form identifiziert – wäre dann Selbst-Erscheinen nicht eine Art von Guru Yoga?
Ngakma Shardröl: Gewiss.
F: Nachdem das Ziel von Guru Yoga die Vereinigung mit dem Guru, der als Yidam visualisiert wird, und das Ziel des Selbst-Erscheinens die Vereinigung mit dem Yidam (der in der Tat der Guru in Verkleidung ist) ist, ist dann diese Unterscheidung nicht sehr subtil?
Ngakma Shardröl: Es ist keine wirkliche Unterscheidung; es sind einfach verschiedene Arten sich demselben zu nähern. Einige finden die eine Route einfacher oder vergnüglicher als die andere, das ist alles.
F: Es wird gesagt, dass nur Praktizierende mit sehr großer Hingabe fähig sind Guru Yoga mit dem Bild ihres eigenen Lehrers zu praktizieren. Nachdem das Ziel der Praxis die Vereinigung mit dem Geist des Lamas ist, bin ich verwirrt, weshalb das so sein soll. Die Aussage, dass es notwendig ist seinen eigenen Lama als Yidam zu visualisieren, es aber verboten ist, den Yidam als seinen eigenen Lama zu visualisieren, scheint mir eine künstliche Asymmetrie zu sein. Das ist doch das Gleiche, nicht wahr?
Ngakma Shardröl: Ja, sie sind wirklich dasselbe, aber die Praxis von Guru Yoga, in der das Bild des eigenen menschlichen Lamas benutzt wird, funktioniert nur bis zu dem Grad, dass man diese Person als wahre Manifestation des erleuchteten Zustandes erfahren kann. Wenn man an seinem oder „Makel“ hängen bleibt funktioniert es nicht als Praxis.