Um eine perfekte Linie zu zeichnen, braucht man Leidenschaft und Präzision…
Dies ist mein Leitprinzip. Ich erinnere mich dauernd daran – nicht nur im Kontext einer Studentin der Thangka-Malerei, sondern in jedem Lebensaspekt des vollblütigen Lebens als Tantrika.
Ich kam mit der Nyingma-Tradition in den frühen 90ern in Kontakt. Ngak’chang Rinpoche traf ich das erste Mal auf einem Kurs in Wien. Das Thema dieses Kurses war Namkha und die fünf Elemente. Ich war so berührt von den Belehrungen über die fünf Elemente dass ich ihn spontan um ein Interview bat. Für mich, die ich damals noch sehr schüchtern war, war das sehr mutig. Nach dieser Unterhaltung wusste ich, dass ich mein Zuhause in der Welt des Vajrayana-Buddhismus gefunden hatte – und einige Wochen später wurde ich Apprentice (Lehrling).
Als ich vor einigen Jahren mit dem Thangka-Malen begann, war dies sehr hart, da ich seit meiner Kindheit keinen Zeichenstift oder Pinsel mehr in die Hand genommen hatte. Ich hatte keine Ausbildung im Malen oder Zeichnen – lediglich den durchschnittlichen Kunstunterricht in der Schule. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich gerne Blumen zeichnete, hauptsächlich Rosen. Dann „änderte sich mein Interesse“ und ich malte Bäume mit dunkelblauem Himmel und dem Mond in verschiedenen Phasen als Hintergrund. Doch am Anfang meines Thangka-Maltrainings war dieses kleine Mädchen, das es liebte zu zeichnen, tot. Ngak’chang Rinpoche und Khandro Déchen jedoch brachten es ins Leben zurück und zeigten ihm die Grundlagen – wie man den Bleistift mit Leidenschaft bewegt, mit Leidenschaft durchpaust, wie man mit Leidenschaft eine Zeichnung vergrößert (wenn man keinen Kopierer besitzt), und wie man Kurven und Lineal mit Leidenschaft benutzt – als Unterstützung dafür, die Perfektion einer Linie zu erreichen.
„Jeder Strich mit dem Stift ist eine Liebkosung – du musst an deinen Mann denken, wenn du zeichnest – jede Bewegung des Stiftes ist eine sinnliche Geste.“ Ich bin Khandro Déchen dankbar für diese Übertragung und Ngak’chang Rinpoche für seine Aussage: „Eine perfekte Linie erfordert Präzision und Leidenschaft“.
Die Vorbedingung für ein Thangka ist eine perfekte Linienzeichnung. Dies ist der schwierigste Aspekt in der Erstellung eines Thangkas – jedenfalls für mich. Man muss wissen, wie bestimmte ikonographische Formen aussehen, wie die korrekten Proportionen sind, wie der Körper in Bezug auf seine spezielle hybride Anatomie aussieht, die der Ikonographie erlaubt, subtil von Natürlichkeit durchdrungen zu sein. Khandro Déchen sagt immer: Das vollendete Werk muss ganz einfach richtig aussehen, aus Sicht der Ikonographie und der Anatomie. Diese beiden Betrachtungen dürfen einander nicht verletzen.
Aber … einfach bedeutet nicht notwendigerweise auch leicht.
– wie Ngak’chang Rinpoche uns oftmals erinnert.
Ngak’chang Rinpoche und Khandro Déchen rieten mir, einen Akt-Zeichenkurs zu besuchen, um das Zeichnen zu üben und die Augen-Hand-Koordination zu trainieren. Mir fiel auf, dass meine Kenntnis der Anatomie als ausgebildete Physiotherapeutin ein großes Hindernis dahingehend war, ikonographische Formen zu verstehen. Genauso sind anatomische Kenntnisse und die klare Betrachtung eines nackten Körpers zwei völlig verschiedene Dinge. Hand-Augen-Koordination ist das grundlegende Training für einen Thangkamal-Studenten. Für mich war (und ist noch immer ) das Aktzeichnen extrem hilfreich. Geduld ist ebenfalls erforderlich und indem ich immer geduldiger werde, stelle ich fest, dass eine Verbesserung – mit der Zeit – möglich ist. Es ist eine Frage der Praxis und Inspiration – wie immer… Man muss sich vom Prozess inspirieren lassen, wie der Yidam oder Lama auf der Leinwand „zum Leben erwacht“ – und von den Farben, dem Spiel der fünf Elemente … Und man muss am Prozess kleben, wie Lokuom an den Zähnen (Lukuom ist eine türkische Spezialität, die sehr süß und klebrig ist).
Rinpoche und Khandro Déchen in unserem Haus in Forchtenstein. Sie kommen zu Vajrayana Handwerks-Retreats mit den Schülern. Ich erhielt den größten Teil meines Trainings während solcher Retreats. Einmal gab mir Ngak’chang Rinpoche ein sehr spezielles Geschenk: er zerschlug eine Champagner-Flasche und präparierte ein Stück gebogene Glasscherbe auf einem Schleifstein. Man braucht ein solches Werkzeug, um die Leinwand des Thangkas zu polieren, bevor man mit dem Malen beginnt. Ngak’chang Rinpoche bearbeitete diese Glasscherbe eine Zeit lang, um sie glatt genug für mich zu machen und erklärte mir, dass man in Tibet ein Stück Muschel dafür benutzt hatte.Dies war für mich so inspirierend, überwältigend, einfach atemberaubend, da ich gerade am Anfang meines Trainings war. Damals dachte ich, es würde noch Jahre dauern, bis ich mit dem Malen eines Thangkas beginnen konnte – aber ich habe herausgefunden, wann immer man so denkt, weiß man zur gleichen Zeit auch, dass man genauso nahe am Ziel sein kann. In der Umgebung der Linien-Lamas können sich Dinge auch viel schneller entwickeln. So kam es, dass ich ein Jahr später anfing, mein erstes Thangka zu malen. Nachdem ich meine „Hausaufgaben“ (dies war das Malen von Flammen mit der Silbe Khrom in der Mitte) gemacht hatte, ermutigten mich Ngak’chang Rinpoche und Khandro Déchen mit dem „real thing“ zu beginnen – meinem ersten Thangka. Es war das Thangka von ’a-Shul Pema Legden.
Während eines Handwerk-Retreats half mir Rinpoche eine Zeichnung von ’a-Shul Pema Legden fertig zu stellen. Am Ende dieser Woche zeigten mir meine Lehrer, wie man die Leinwand aufspannt und vorbereitet, was sehr aufregend war. Nach ein paar Wochen war ich mit dem Malen fertig und nahm das Thangka zu einem Besuch bei Rinpoche und Khandro Déchen nach Wales mit. Sie führten mich in die Airbrush-Technik ein. Ich werde nie den Augenblick vergessen, als wir den Schutzfilm von den bemalten Teilen des Thangkas abzogen. Ich konnte kaum noch atmen. Ich war sehr stolz auf meine ersten Bemühungen und darauf, mein erstes Thangka fertiggestellt zu haben. Danach malte ich noch zwei weitere Thangkas: Ögyen Garuda und Ögyen Ga’wang Dorje – eine spezielle Form von Padmasambhava.
Mein Leben hat sich im Laufe der letzten Jahre stark verändert – ich erreichte Dinge, von denen ich nie geglaubt hätte, sie verwirklichen zu können. Nicht nur, dass ich Praktizierende, eine Thangka-Malerin und eine ordinierte Naljorma im Gö-kar-chang-lo’i dé geworden bin – seit dem Jahr 2000 bin ich plötzlich Mutter einer 19-jährigen Tochter geworden. Die Tochter meines Mannes entschied sich dafür, bei uns zu leben, was großartig ist. Nun sind wir eine kleine Familie und mein Verantwortungsgefühl ist ebenfalls enorm gestiegen. Ich habe angefangen, wieder in meinem früheren Beruf zu arbeiten. Ich hatte meinen Job für ein Jahr aufgegeben, um meine Zeit dem Thangkamalen zu widmen. Nun arbeite ich nur noch halbtags. Dies ist natürlich in Bezug auf Einkommen sehr hilfreich, aber auch in Bezug auf die Zeit. Außerhalb meiner essentiellen Praxis finde ich noch immer Zeit zum Malen, für Familie, Haus und Garten. Ich hoffe, mit Khandro Déchens Hilfe noch mehr der Aro gTér Yidams „zum Leben zu erwecken“.