Frage: Rinpoche, Vajrayana Buddhismus ist hoch komplex und intellektuell – gibt es eine Herangehensweise für Leute, die keinen akademischen Intellekt haben?
Ngak’chang Rinpoche: ja – sicher. Ich habe keinen akademischen Intellekt, und bin auch nicht mehr als durchschnittlich intelligent. Also müsste es einen Weg geben, nicht wahr [lacht]. Es gibt die Herangehensweise durch Hingabe und Vertrauen. Und tatsächlich – diese sind auch unabdingbar für Intellektuelle – genau genommen sogar noch mehr, weil es sein kann, dass für Intellektuelle immense Unsicherheiten überwunden werden müssen. Also ist die Beziehung zum Lama der Schlüssel, direkt von Anfang an. Man muss einen Lama finden, in den man sein ganzes Vertrauen setzen kann. Solche Lamas kann man noch finden – Lamas wie Kyabjé Künzang Dorje Rinpoche und Jomo Sam’phel – solche wie Dung-sé Thrin-lé Norbu Rinpoche. Mit solchen Lamas kann man einfach solches Vertrauen erreichen.
F Wo würdest du bei jemandem ansetzen, der den Symbolismus des Vajrayana zu immens und komplex findet?
R Ich würde sagen, dass der Symbolismus im Grunde eine einfache Angelegenheit ist. Wir sind alle Symbole von uns selbst. Wir sind nicht wirklich wir selbst, und daher arbeiten wir mit Symbolismus. Um es anders zu sagen: wir erfahren uns selbst nicht als die erleuchteten Wesen, die wir tatsächlich sind. Es ist eher so, dass wir Verwirrung erfahren und eine Anzahl Probleme. Wie also können wir einen Bezug zu unserer innewohnenden Erleuchtung herstellen – unserem nicht-dualen Zustand? Beginnen wir mit dem „Banalen“. Im alltäglichen Leben ziehen sich Leute auf unterschiedliche Weise an, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wenn ihnen das Vertrauen in die Geschäftswelt fehlt, wählen sie den „Power Dress“ – wenn ihnen sexuelles Selbstvertrauen fehlt, kann es sein, dass sie sich provokativ präsentieren. So banal diese Dresscodes sein mögen, gibt es doch eine Verbindung zur Tantrischen Methode des Yidams, dem Gewahrseinswesen oder der Meditationsgottheit.
F Kannst du erklären, was Yidam bedeutet, Rinpoche, im ursprünglichen Sinn?
R Ein Yidam ist eine visuelle Beschreibung unseres eigenen erleuchteten Zustands, sowie eine Methode diesen Zustand zu erreichen, zu verstehen und zu erfahren. Ein Yidam erscheint im „Herz-Geist“ eines erleuchteten Yogis oder einer erleuchteten Yogini als Methode, um die Erleuchtung zu erreichen. Weil sie ihre eigene erleuchtete Natur verwirklicht haben, manifestieren solche Meister mitfühlende Methoden auf der Ebene der Vision, durch welche andere ebenso den erleuchteten Zustand erreichen können. Im Vajrayana entstehen diese Methoden in der visionären Dimension erleuchteter Meister, damit andere diese Methoden anwenden können, um den nicht-dualen Zustand zu verwirklichen. Es gibt wenige solche Meister.
F Also – wie werden Yidams im Vajrayana praktiziert, sind sie wie Archetypen?
R Yidams können möglicherweise auf viele Arten beschrieben werden, aber sie sind definitiv keine Archetypen. Es gab viele Leute aus dem Westen, die versucht haben, Yidams auf diese Art zu beschreiben, aber es ist weder akkurat noch hilfreich. Ein Archetyp entspringt der menschlichen Psyche, wohingegen ein Yidam aus der ursprünglichen Leerheit des Geistes entsteht. Yidams entspringen nicht dem konzeptuellen Bewusstsein – wie außergewöhnlich dieses Bewusstein auch sein mag. Einige Yidams waren jedenfalls lebende erleuchtete Wesen, die in der Welt Form angenommen haben, aber seitdem in andere Dimensionen gegangen sind. Padmasambhava und seine spirituelle Ehefrau Yeshé Tsogyel sind Beispiele dieser Form von Yidam. Yidam, in diesem Sinne, bezieht sich auf die vielen Facetten mitfühlender Aktivität, welche ein Mensch entfaltet. Auf eine einfachere Art haben wir alle viele Persönlichkeitsfacetten in unserem Leben. Man ist eine Mutter oder ein Vater, ein Sohn oder eine Tochter oder ein Polizist, ein Auftragskiller, Koch, Cowboy, Künstler, Rockstar, etc. Aber ein Rockstar ist nicht einfach nur ein Rockstar, er oder sie ist alles andere auch – vielleicht kein Auftragskiller, aber möglicherweise eine Tochter, eine Ehefrau, eine Mutter, ein Cowgirl etc. Nimm John Lennon als Beispiel. Es gibt die „langhaarig bärtige“ Yidamform, und die „kurzhaarig-Overall-tragende“ Yidamform. Man könnte sich seine Stile im Laufe seiner gesamten Karriere anschauen und würde erkennen, dass sie verschiedene Versionen desselben sind. Aber diese Bilder können ein Eigenleben entwickeln, je nachdem wie wir zu ihnen in Beziehung stehen. Ich könnte mich entscheiden, einen weißen Anzug zu kaufen, mein Haar lang wachsen zu lassen und runde Brillen zu tragen – ich könnte versuchen „dieser“ John Lennon zu sein, aber ich wäre nicht ganz diese Person, ich wäre nur ich, der das manifestiert, was Lennon in diesem Moment seines Lebens widergespiegelt hat. Der Unterschied zwischen solcher Helden- oder Heldinnen-Verehrung und Tantra ist, dass John Lennon nicht notwendigerweise eine visionäre Reflektion der eigenen erleuchteten Natur ist. Bei Yidams wie Padmasambhava gibt es viele Manifestationen, wobei jede eine seiner vielen Facetten reflektiert, aber jede reflektiert ebenso sein ganzes Wesen als nicht-dualer Zustand. Jede Manifestation reflektiert eine Methode, die der Erleuchtung entspricht, die er verschiedenen Leuten zu verschiedenen Zeiten gezeigt hat. Padmasambhava war eine historische Person, and somit waren einige der Methoden diejenigen, welche er während seines menschlichen Lebens entfaltet hat; wohingegen andere erst gezeigt wurden, nachdem er die Welt verlassen hatte. Diese anderen visionären Formen wären für einen erleuchteten Meister „mitfühlende Erscheinungen“ gewesen, und er würde sie als Manifestationen von Padmasambhava erkannt haben.
Nicht alle Yidams haben eine menschliche Inkarnation gehabt, aber von einigen wird angenommen, dass sie Manifestationen von Yidams sind. Solch ein Mensch ist der Dala’i Lama, der als Manifestation von Chenrézig angesehen wird. Zu sagen, dass jemand eine Manifestation von Chenrézig ist, bedeutet einfach, dass jemand die Qualität unauslöschbaren Mitgefühls für jeden und alles, zu jeder Zeit hat. Dies sind die Qualitäten des Chenrézig genannten Yidams. Das ist offensichtlich eine andere Idee als die des „Gottkönigs“ – Verkörperung einer Gottheit auf Erden.
F Oft sieht man ein Bild, welches das „Tibetische Rad des Lebens“ genannt wird, ist dies auch eine Form von Yidampraxis?
R Nein. Das Tibetische Rad des Lebens wird auch genauer als „das Rad zyklischer Erfahrung“ bezeichnet. Wenn wir uns das Bild ansehen, sehen wir einen Kreis, in dem sich ein Hahn, ein Schwein und eine Schlange befinden. Der Hahn stellt Anziehung dar, die Schlange Aversion, und das Schwein repräsentiert Indifferenz. Diese drei Zustände erzeugen die Energie, die den Dualismus aufrecht erhalten. Dualismus ist die Angewohnheit zu versuchen, „das, was unteilbar ist“, zu unterscheiden, und sich dann auf einen Teil des Ganzen zu beziehen, als sei er vollständig. Die beiden Aspekte der Realität können mit verschiedenen Namen belegt werden: Leerheit und Form, Chaos und Muster, Intuition and Logik, Unberührbares und Berührbares, lateral und linear. Dualismus ist die Illusion, dass es eher möglich ist, sich auf Form zu beziehen, als auf das nicht-duale Spiel von Leerheit und Form. Oder, um es anders zu sagen, „eines“ untermauert meine Wahrnehmung als „solide, dauerhaft, getrennt, kontinuierlich und begrenzt“, „eines“ erschreckt meine Wahrnehmung als „solide, dauerhaft, getrennt, kontinuierlich und begrenzt“, und das „andere“ ist weder hier noch da. Die friedvollen, freudvollen, und zornvollen Gewahrseinswesen entsprechen diesen drei Zuständen. Friedvolle Yidams transformieren Indifferenz, freudvolle Yidams transformieren Anziehung, und zornvolle Yidams transformieren Aversion.
F Kannst du erläutern, was mit friedvoll, freudvoll und zornvoll gemeint ist?
R Friedvolle Yidams können männlich oder weiblich sein; sie sitzen ruhig und lächeln gelassen. Beispiele davon sind Drölma, Chenrézigs und Jampalyang. Freudvolle Yidams gibt es in verschiedenen Formen. Es gibt die tanzende Dakini-Form, wie Dorje Naljorma, die immer allein and weiblich ist. Es gibt auch die Yab-Yum oder „Vater-Mutter“-Formen, bei denen die männlichen und weiblichen Yidams in sexueller Vereinigung sind. Freudvolle männliche Gewahrseinswesen sieht man niemals allein. Männer sind nicht freudvoll ohne Frauen [lacht], aber Frauen können alleine freudvoll sein. Aber dies ist keine Aussage über menschliche Wesen – es ist eine Aussage über die Natur von Leerheit und Form. Im Vajrayana wird Männlichkeit als „Form“ und Weiblichkeit als „Leerheit“ angesehen. Wenn du einen weiblichen Yidam alleine siehst, ist sie Leerheit, weil sie weiblich ist; aber du kannst sie auch sehen – somit hat sie Form. Die Form des weiblichen Yidams ist das, was man sieht – daher ist Weiblichkeit immer zugleich sowohl Leerheit als auch Form; und aus diesem Grund ist sie in sich selbst vollständig. Männlichkeit ist Form. Ein männlicher Yidam ist Form, also muss er Leerheit irgendwie beschreiben – und das ist der Grund, warum männliche Yidams in sexueller Vereinigung gezeigt werden. Sie zeigen ihre nicht-duale Natur, indem sie ihre Leerheit als die Gefährtin darstellen, mit der sie vereint sind. Manchmal tragen männliche Yidams wie Padmasambhava einen Dreizack, um auf ihren Leerheitsaspekt zu verweisen, anstatt sich in sexueller Vereinigung zu manifestieren, aber welche Form auch immer der männliche Yidam hat – Leerheit muss immer als Zusatz zu seiner eigenen Erscheinung dargestellt werden.
Ein zornvoller Yidam ist eine kraftvolle Demonstration von Transformation. Die schreckliche Erscheinung des zornvollen Yidams zeigt, dass – egal wie böse ich bin, egal wie grauenhaft gestört wir sein mögen, diese Verzerrungen mit dem erleuchteten Zustand verbunden sind. Vajrayana verkündet, dass alles transformiert werden kann – es ist unmöglich, zu schlecht zu sein. Dies ist eine außerordentlich kraftvolle Haltung, denn, wenn solch eine Praxis selbst einen Hitler oder Stalin transformieren kann, dann kann sie alles transformieren [lacht], selbst Ngakpa Chögyam.
Zornvolle Yidams halten alle Waffen und manchmal Skorpione. Der Skorpion ist ein schönes zornvolles Beispiel. Es heißt, er sei das einzige Tier, das sich selbst tötet, oder irgendetwas anderes – aufgrund eines plötzlichen Impulses, und selbst der Skorpion kann transformiert werden. Die Waffen werden von zornvollen Gottheiten gehalten, um die Illusion des Dualismus zu zerstören. Es gibt Schwerter, Lanzen, Äxte, Speere, Hackmesser, Häutungsmesser, Dolche – eine ganze Ansammlung. Es ist nicht so, dass Dualismus auf all diese verschiedenen Arten zerstört werden muss, es ist einfach so, dass wir alle verschiedene Mittel brauchen, um unsere individuelle Illusion von Dualität zu zerstören. Unsere Illusionen nehmen viele verschiedene Formen an; also braucht man paradoxerweise viele illusorische Methoden, um Illusion zu zerstören. Letztendlich erfüllen die Waffen, die von zornvollen Yidams gehalten werden, alle die gleiche Funktion; ob es ein Speer, eine Lanze oder ein Dolch ist – Dualität wird ermordet.
F Die Waffen der Vergangenheit sehen heutzutage etwas zahm aus im Vergleich zu militärischen Waffen – hätten Missiles eine stärkere Auswirkung auf die Transformation von Negativität?
R in gewissem Sinne – möglicherweise. Wenn vielleicht ein westlicher Tantrischer Meister eine Yidampraxis zur heutigen Zeit verwirklicht hätte, könnte eine der Waffen „nuklearer Overkill“ genannt werden. Solch eine grimmige Methode der Transformation könnte mit Maschinengewehren bewaffnet sein, Gewehren, Landminen, und alle Arten von Werkzeugen des Todes. Aber dies wäre keine menschliche Schöpfung, der Yidam würde der Vision eines erleuchteten Yogis spontan entspringen. Ich bin kein gTértön, daher werde ich niemals solch eine Vision entstehen lassen. Aber ein Messer ist völlig ausreichend, um mich zu töten – daher bin ich zufrieden damit, mein Selbst vom Anhaften ans Selbst durch einen Vajradolch zu schlachten.
F Tantra scheint zutiefst schockierend zu sein.
R Ja. Zornvolle Metaphorik zeigt ein hohes Energielevel an. Schock war das hauptsächliche Thema des Vajrayana im alten Indien, wo Vajrayana der dominierenden Brahmanen-Kultur gegenüberstand. Tantrikas hatten sexuelle Partner aus niedrigen Kasten, sie hingen herum, tranken Alkohol, und – Schrecken aller Schrecken – sie waren keine Vegetarier. Dies war horrend für einen Brahmanen. Es ist immer noch horrend für die Arten „westlicher Buddhisten“, die dazu tendieren, aus Vegetarismus eine kodifizierte moralische Haltung zu machen. Es mag hilfreich sein zu bedenken, dass Vajrayana nicht durch Konzepte politischer Korrektheit beeinflusst wird. Vielleicht halten wir heutzutage Schwerter für romantisch und harmlos, aber es ist wichtig zu verstehen, dass Vajrayana nicht bloß eine Methodologie aus vergangener Zeit ist. Es mag für die politisch Korrekten bedrohlich sein, einen zornvollen Yidam zu erleben, der mit einem Maschinengewehr ausgestattet ist, Kettensäge, und der frisch abgezogenen Haut eines kleinen Kindes – aber, irgendwie, obwohl das nicht als „spirituell“ angesehen werden mag, kann es etwas essentiell weit Freundlicheres zeigen als die eng strukturierte „Gutheit“, die keine menschliche Verschiedenheit tolerieren kann. Also, ja – Vajrayana ist zutiefst schockierend, weil wir geschockt werden müssen, um in Kontakt mit unserer natürlichen Freundlichkeit zu kommen.
F Arbeitet ein Praktizierender immer mit einem Yidam?
R Nicht notwendigerweise. Ein Yidam ist eine Praxis, die man von seinem Lama erhält, als Mittel, den erleuchteten Zustand zu erreichen. Im Verlauf unseres Lebens können wir mit vielen verschiedenen Yidams arbeiten, oder uns auf einen Haupt-Yidam als die Praxis unseres Lebens festlegen. Es hängt von der Beziehung ab, die du mit deinem Lama hast. Man kann mit einem „friedvollen“ Yidam beginnen, zu einer freudvolleren Form übergehen, und schließlich zu einem „zornvollen“ Typ. Dieser Prozess repräsentiert eine Beschleunigung durch die drei Phasen, die Praktizierenden ermöglicht, die Geschwindigkeit festzustellen, bei der sie Bezugspunkte loslassen können. Zornvolle Praxis kann Paranoia hervorrufen, wenn man sich ihr voreilig nähert, somit ist eine Balance zwischen Vorsicht und Mut erforderlich.
F Wenn du dich ändern möchtest, müssen dann die „Änderungen“ solche sein, die du bewältigen kannst?
R Sicher. Wenn du dich fürchtest, möchtest du dich nicht weiter ändern; eher möchtest du die Tür schließen und fliehen. Wir müssen ein Gefühl dafür haben, inwieweit wir uns ein bisschen durchschütteln können [lacht], aber wir müssen auch Vertrauen haben, im Nachhinein fähig zu sein zu sagen: „Das war ein Höllenritt, aber er hat mich nicht umgebracht.“
F Also können Änderungen auf verschieden Arten passieren?
R Auf dem yogischen Zeltlager zum Beispiel, das wir jedes Jahr in Wales veranstalten, passieren erstaunliche Dinge. Es passieren keine Wunder – nur gewöhnliche menschliche Magie. In heißen Sommern gehen die Leute oft schwimmen nach anstrengende sKu-mNyé Übungen. Sie ziehen dann immer ihre Kleider zum Schwimmen aus, und andere folgen entsprechend. Es ist oft das erste Mal für einige Leute, dass sie sich in der Öffentlichkeit ausgeziehen, und sie sind üblicherweise im Nachhinein vollkommen begeistert: „Hey! Ich hab’s getan, Ich bin nackt mit einer Gruppe total fremder Leute geschwommen, und die Welt ist nicht eingestürzt!“ Wenn Menschen Barrieren langsam durchbrechen, können sie wachsen und sich an Veränderungen als Ereignisse gewöhnen, die nicht ausschließlich erschreckend sind. Dann, eines Tages, wenn man sich an die Idee des „Wechsels als solchem“ gewöhnt hat, können wir staunen, wie wenig schneller durchdringendere Veränderungen sein können. Oder wir können über die Erfahrung rascher Veränderungen in schneller Folge nachdenken. Zuerst ist jede Veränderung erschreckend; aber dann wird der „Wechsel als solcher“ eine Arbeitsmöglichkeit. Dies ist als friedvolle Praxis bekannt. Wenn die Veränderung eine „Arbeitsgrundlage“ wird, kann man sich der Praxis eines „freudvollen“ Yidams nähern, bei der es die Schnelligkeit des Wechsels ist, die zur „Arbeitsgrundlage wird“. Von dieser Basis ausgehend kann die ganze Beschaffenheit der eigenen dualistischen Täuschungen in Frage gestellt werden, was als „zornvolle“ Praxis bekannt ist. Veränderung ist eine Reflektion von Leerheit, weil Veränderung ein Schritt ins Ungewisse ist, in dem man die einem vertrauten Formen auflöst.
F Was ist notwendig, bevor jemand die Yidampraxis beginnt?
R Bevor du mit einem Yidam arbeiten kannst, musst du die Ermächtigung erhalten haben.
F Es mag eine dumme Frage sein, Rinpoche – aber kannst du Ermächtigung erklären? Ich habe eine grobe Vorstellung davon, was sie bedeutet, aber es ist mir nie wirklich so erklärt worden, dass ich mich sinnvoll daran erinnern kann.
R Richtig, also fangen wir mit dem gewöhnlichen menschlichen Verhalten an. Wenn du eine Beziehung mit jemandem beginnen möchtest, lädst du ihn oder sie vielleicht zum Abendessen ein. Das ist wie eine Ermächtigung, die Einladung des Yidams. Es gibt Opfergaben, wie Essen und Wein. Es gibt das Mandala: das Restaurant und seine Atmosphäre mit den Kellnern und Kellnerinnen. Da ist die Visualisation, was man essen könnte, und das Mantra im Sinne beschwörender Worte. Das ganze Ereignis ist symbolisch. Es gibt dabei Qualitäten, die viele Aspekte einer Yidam-Ermächtigung ansprechen. Im Falle einer Ermächtigung für die Yidampraxis, muss der Lama in der Form des Yidams „erscheinen“, im Sinne innerer visionärer Erfahrung. Lamas müssen sich in Leerheit auflösen und als Yidams innerhalb ihrer eigenen Erfahrung erscheinen. Um sich in Leerheit aufzulösen, müssen Lamas ihre „Alltagspersönlichkeit“ als Bezugspunkt aufgeben, das innere Bild ihrer selbst verlieren. Wenn Khandro Déchen oder ich eine Ermächtigung von Padmasambhava oder Yeshé Tsogyel geben, müssen wir unsere Identität aufgeben und zum Yidam werden.
Historisch wurde eine Ermächtigung eins-zu-eins gegeben und empfangen. Das kann auch heutzutage der Fall sein. Ermächtigungen werden jedenfalls immer mehr an Gruppen von Menschen gegeben. Üblicherweise nimmt die Ermächtigung die Form einer Zeremonie an – aber Zeremonie ist ein unpassendes Wort, und ich würde Ermächtigung lieber als „symbolische Aktivität“ beschreiben. Sowohl auf der Alltagsebene als auch auf einer ausgesprochen grundlegenden Ebene hat ein dBang mehr mit etwas gemeinsam, das in einem Restaurant passieren könnte – wenn etwas Entscheidendes mitgeteilt wird: ein Heiratsantrag zum Beispiel. Der richtige Moment muss da sein und die ganze Mahlzeit ist eine Vorbereitung für diesen Moment.
Bei einer tantrischen Ermächtigung gibt es vier Phasen symbolischer Aktivität. Die erste Ermächtigung ist die Form- oder Körper-Ermächtigung, bei der man Wasser aus einer mit Pfauenfedern gekrönten Vase erhält (bum-pa). Das ist ein Symbol des physischen Aspekts der Realität. Die Vase weist sowohl äußeren Raum als auch inneren Raum auf – somit repräsentiert das aus ihr fließende Wasser die Vereinigung von innerem und äußerem Raum. Das Wasser, oder die Übertragung, überbrückt die Trennung von Lama und Schüler, wobei die Illusion von Trennung zerstört wird.
In der nächsten Phase erfolgt die Energie-Ermächtigung, die mit einem Ga’u (Schreinkasten oder Reliquienbehälter) gegeben wird. Der Ga’u beinhaltet ein Bild oder eine Statue des Yidams, und man wird damit an der Stirn, an der Kehle und am Herz berührt. Diese repräsentieren die drei Sphären des Seins, Geist, Energie und Körper, die von den Silben Om, A’a und Hung symbolisiert werden. Die Stirn ist die Sphäre der Leerheit, die Kehle ist die Sphäre der Energie, und das Herz ist die Sphäre der Form.
TDann kommt die Leerheitsermächtigung, bei der man wieder an den drei Punkten mit einem anderen Ga’u berührt wird. Dieser zweite Ga’u kann verschiedene Bilder beinhalten, aber wir verwenden ein Bild von Seiner Heiligkeit Düd’jom Rinpoche. Khandro Déchen und ich verwenden ein Bild von Düd’jom Rinpoche, weil er der Lehrer der meisten anderen heutzutage lebenden Nyingma Lehrer war. Er war der Lehrer all meiner anderen Lehrer und repräsentiert als solcher die erleuchtete Natur aller Wesen. Zuletzt kommt die nichtduale Ermächtigung, in der ein Kristall hochgehalten wird. Mit diesem wird nicht jedermanns Kopf berührt, stattdessen starren ihn alle gleichzeitig an. Dies ist ein Symbol dafür, dass die vorhergehenden drei Ermächtigungen nicht getrennt sind, und dass sie nicht-hierarchisch sind.
F Die drei Ermächtigungen repräsentieren Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya?
R Ja.
F Ich dachte, sie würden als eine ansteigende Verwirklichung vom Nirmanakaya zum Dharmakaya angesehen?
R Sicher. So wird davon im Sutra gesprochen; und ebenso im äußeren Tantra. Aber in den inneren Tantras im Nyingma entfernen wir uns von diesem Verständnis, bei dem die leere Natur höher steht als die Form, die daraus entsteht. In den Begriffen des Dzogchen sprechen wir nicht wirklich von Nirmanakaya, Sambhogakaya, and Dharmakaya – wir sprechen von Ngowo, Rang-zhin und Thug-jé; und wenn wir von diesen drei sprechen, verstehen wir sie nicht als hierarchisch. Sie sind gleichwertig. Nun sind die vier Ermächtigungen des inneren Tantra im Nyingma eine Brücke zwischen Tantra and Dzogchen – daher folgt auf Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya Ermächtigungen das Essenz-Kaya – Ngowo-ku -welches Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya vereint.
F Also arbeitet man nach der Ermächtigung mit dem Yidam.
R Ja. Nachdem die Ermächtigung gegeben worden ist, gibt es viele verschiedene Wege, den Yidam zu praktizieren. Diese hängen von der Ebene des Tantras ab, das man praktiziert. Kriya Tantra beinhaltet das Singen langer Texte und Durchführen elaborierter Visualisationen, in denen nicht nur der Yidam visualisiert werden muss, sondern auch das Kyil’khor des Yidam. Auf der Ebene, auf der wir Ermächtigungen geben – der Ebene von Anuyoga und Atiyoga – gibt es nur den Yidam. Es gibt keinen Text oder Sadhana zu singen – nur das Mantra des Yidams. Man „selbst-erscheint“ einfach als der Yidam. Man singt das Mantra und findet die Präsenz des Gewahrseins in der Dimension des Klangs. Dann gibt es die Praxis der Rezitation, die mehr in die Kategorie der Mahayoga Tantras fällt. Ein Mantra zu rezitieren beinhaltet, das Mantra des Yidams 100,000 mal für jede Silbe zu rezitieren, die im Mantra enthalten ist.
F Kannst du uns ein Beispiel geben?
R Das Mantra von Yeshé Tsogyel: Om A’a: Hung Bendzra Guru Jnana Sagara Bam Ha Ri Ni Sa Siddhi Hung: enthält 20 Silben, also würde man es 20,000,000 mal rezitieren.
F Rinpoche – Ich hoffe, das hört sich nicht unhöflich an, aber was ist das Ergebnis solch umfangreicher Rezitation?
R Indem man die Rezitation eines Mantras vervollständigt, erfährt man den grundlegenden Zustand der Resonanz mit dem Yidam. Es ist ein Prozess des sich Stimmens, wie bei einem Musikinstrument. Man kommt in Resonanz mit der Kraft des Mantras. Das bedeutet nicht, dass irgendetwas „Magisches“ passiert, es ist einfach die Kraft des Mantra, die sich im eigenen Leben manifestiert, als aktives Mitgefühl, dessen man fähig ist. Kraft ist interessant. Es gibt Texte, die aufzeigen, dass man nach so vielen Millionen Rezitationen Siddhis aufweisen kann – aber in gewissem Sinne kann man den Punkt verpassen, indem man sich Mantras mit diesem Gedanken nähert. Mantra ist das Gefühl für letztendliche Intimität mit dem Klang – wodurch die eigenen Kapazitäten „selbst erscheinend“ werden. Ein Mantra ist eine „Trägerwelle“ auf der sich die einzigartige Frequenz des Yidams bewegt. Indem man ein Mantra rezitiert, stimmt man sich auf die „Frequenz“ des Yidams ein. Im yogischen Lied ist die „klangliche Identifikation“ das Prinzip; aber bei der Rezitation ist Schnelligkeit und numerische Geschwindigkeit das Prinzip.
F Rinpoche – kannst du etwas mehr über yogische Lieder sagen?
R Indem man das Mantra singt, findet man, eher noch als bei der Akkumulation von Rezitationen, das Gewahrsein in der Dimension des Klangs. Das Wort Dimension ist hier wichtig. Sich selbst in der Dimension des Klangs zu finden bedeutet, dass man nie zerstreut ist. Was auch immer passiert, passiert einfach innerhalb der Dimension des Klangs. Wenn ein Hund bellt, erscheint das einfach innerhalb der Dimension des Mantras. Der Schmerz im Knie, der Geruch der Pizza im Ofen, die Pistolenschüsse auf der Lower East Side, sie sind alle „innerhalb der Dimension des Klangs“. Durch den yogischen Gesang identifiziert man sich vollständig mit dem Klang – es gibt keine andere Realität. Nach der Sichtweise im Dzogchen gibt es keine wie auch immer geartete Notwendigkeit, irgendeine wörtliche oder auf das Mantra oder tantrische Verse bezogene symbolische Bedeutung zu verstehen – sie sind in erster Linie Klangqualität.
F Und Gesang im Sinne des Vajrayana, Rinpoche – kannst du mir das erläutern?
R Gesang (Dönpa) ist eine Methode, bei der man sich der Bedeutung des Textes bewusst ist. Man folgt der Bedeutung, während man singt. Die Bedeutung kann ebenso die Visualisationen leiten, welche den Gesang begleiten. Im Tantra leiten Gesänge wie das Lama’i Naljor von Ma-gÇig Labdrön deine Praxis.
Om ma-gÇig ma la solwa dep / A’a ma-gÇig ma la sol wa dep / Hung ma-gÇig ma la solwa dep / Karpo Om gyi jing gyi lop / Marpo A’a gyi jing gyi lop / Ngönpo Hung gyi jing gyi Lop / Kusung thug gyi jing chen phob / Ma yum chen go pang tob par shog
Wenn ich mit der Melodie beginne, visualisiere ich Ma-gÇig Labdrön vor mir. Wenn ich die erste Zeile singe, Om Ma-gÇig ma la solwa dep, visualisiere ich ein weißes Om auf ihrer Stirn. Bei der nächsten Zeile visualisiere ich ein rotes A’a auf ihrer Kehle, die nächste Zeile, ein blaues Hung, auf ihrem Herzen. Bei der Zeile Karpo Om gyi jing gyi lop, visualisiere ich einen Strom weißen Lichts, der von Ma-gÇig Labdrön zu mir kommt, bei der nächsten Zeile einen rotes Licht, bei der nächsten Zeile ein blaues Licht. Während ich Kusung thug gyi jing chen phob singe, erhalte ich die drei Lichtströme zusammen, und in der letzen Zeile werde ich Ma-gÇig Labdrön.
Dieser Text sagt mir, was zu visualisieren ist. Daher wird er eher als Gesang denn als yogisches Lied beschrieben – obwohl er eine schöne Melodie hat. Der Unterschied zwischen Gesang und yogischem Lied hat nichts mit Melodik oder ihrem Fehlen zu tun, wie es im westlichen Gebrauch dieser Worte der Fall sein kann. Wenn wir dies Lama’i Naljor praktizieren, benutzen wir Trommeln (gÇod damaru), Glocken (dril bu) aund Trompeten aus menschlichen Oberschenkelknochen (rKang gLing) um die Energie der Übertragung hervor zu rufen. Dieser Gesang hat auch andere Zwecke. Wenn er praktiziert wird, wird die Ermächtigung durch Ma-gÇig Labdrön wieder erschaffen. Er wird zum Re-enactment der vom Lama ursprünglich gegebenen Ermächtigung und enthält die gleichen vier Phasen der Form, Leerheit, Energie und Nichtdualität.
F Rinpoche, ich interessiere mich für die Natur des Aro gTér – könntest du uns erklären, was ihre Charakteristiken sind – gibt es einen bestimmten Charakter, durch den sie sich von anderen Linien unterscheidet?
R In mancher Hinsicht kann sie als verschieden angesehen werden. Es ist eine Atiyoga Linie und selbst die Art der Annäherung an das Mahayoga und Anuyoga reflektiert Dzogchen. In der Aro gTér Linie werden alle Yidams als Manifestationen des Buddhas Yeshé Tsogyel und ihres Gefährten Padmasambhava angesehen. Das ist etwas ungewöhnlich. In den meisten Nyingma Linien gibt einige Yidams, die Manifestationen von Padmasambhava sind, aber in der Aro gTér Linie trifft dies für alle Yidams zu. Das steht in Zusammenhang mit der zentralen Praxis des Aro gTér, dem Khandro Pawo Nyi-da Mélong. „Khandro“ ist das weibliche Prinzip, „Pawo“ ist das männliche Prinzip, „Nyi“ ist die Sonne, „da“ ist der Mond, „Mélong“ ist der Spiegel. Also ist diese Praxis „Der Spiegel, der die Sonne und den Mond der Khandros und Pawos reflektiert“.
Dies ist eine Belehrung für Frauen und Männer in romantischen Beziehungen. Sie erklärt, wie Beziehungen als Praxis funktionieren, bezogen darauf, wie Männer und Frauen einander den inneren Pawo oder die innere Khandro widerspiegeln können. Im Tantra werden wir als getrennt von diesen inneren Qualitäten angesehen – und wenn wir von inneren Qualitäten getrennt sind, entsteht Unausgewogenheit. Romantik wird normalerweise als neurotisch angesehen, im sutrischen Buddhismus, aber bezogen auf das innere Tantra ist sie ein mächtiger Schlüssel zur Befreiung. Der Schlüssel zu dieser Praxis ist Offenheit und Freundlichkeit / Vertrauen und Respekt. Diese sind dieselben wie die zwei buddhistischen Prinzipien von Weisheit und Mitgefühl, oder Leerheit und Form. Wenn diese innerhalb einer romantischen Beziehung funktionieren, sind die Flitterwochen nie vorüber – man bleibt immer verliebt. Diese spirituelle romantische Beziehung entzündet das Gewebe der Dualität, und Befreiung leuchtet durch die dualistischen Strategien durch, die üblicherweise unser Sein ersticken.
In einer Beziehung verstehe ich meine Frau als Yeshé Tsogyel und respektiere sie als diese. Sie bezieht sich auf mich, als sei ich der Gefährte von Yeshé Tsogyel, und auf diese Weise werden wir zum Lehrer des Anderen. Als Erweiterung dieser Praxis suchen Männer aktiv die Bedrohung du’rch ihre Partnerin, und Frauen suchen die Herausforderung durch sie. Immer wenn Khandro Déchen und ich dies lehren, gibt es Leute, die darauf bestehen zu fragen: „Wie also wirke ich bedrohlich auf meinen Ehemann“ oder „Wie fordere ich meine Frau heraus?“ Das ist absolut nicht das, was wir meinen. Du musst gar nichts tun. Du bist einfach die Bedrohung. Du bist einfach die Herausforderung – indem du bist, wie du bist. Du existierst einfach, dein Partner ist es, der Bedrohung oder Herausforderung durch die Darstellung, wie du sie zum Ausdruck bringst, sucht. Menschen können in Beziehungen so verdammt pro-aktiv sein. Wir finden, es gibt genug bedrohliches Verhalten in Beziehungen, ohne dass man mehr davon hervorrufen müsste. Bedrohung ist das, was der Mann finden muss, da er Form ist. ’Wenn du „Form“ ändern möchtest, muss „Form“ bedroht werden. Für „Form“ ist die Erfahrung der Möglichkeit, „umgeformt“ zu werden, erschreckend. Wenn du der Leerheit Form entlocken willst, dann erfordert die eigene Position Herausforderung, die dich in der Welt der Manifestation begrüßt.
Wir reden hier in einfachen Begriffen. Nicht dass diese Praxis hoch komplex ist, aber um sich an solche Praktiken anzunähern, muss man ein Verständnis von Tantra im Laufe einer vernünftigen Zeitspanne entwickeln.’ Tantra ist nicht vom alltäglichen Leben verschieden – aber das ist eine irreführende Aussage. Jedenfalls, je mehr man vom tantrischen Symbolismus versteht, desto mehr versteht man, dass das alltägliche Leben Tantra ist – und wenn dir das klar wird, beginnt dein Leben endlos zu schimmern. Ermächtigung stellt sich selbst die ganze Zeit dar: an der Bushaltestelle; im Kino; im Bad; und auf dem Fabrikboden. Dies mag sich banal anhören oder allgemein, aber das Allgemeine dabei ist subtil. Man muss wirklich den Kontext des Tantra verstehen, um die Möglichkeit zu haben, alltägliches Leben in symbolische Bedeutung explodieren zu lassen. Der Kontext des Tantra ist einer, in dem Symbolismus selbstevident ist: Blau ist blau; grün ist grün; rot ist rot; weiß ist weiß; gelb ist gelb; Raben krächzen; Wölfe heulen, Frösche quaken, Bullen brüllen; Skorpione richten ihren Schwanz auf; junge Hähne krähen; Schlangen zischen; Schweine quieken; der Himmel ist blau; der Himmel ist grau; Sterne leuchten am Himmel; Pferde wiehern; Regen erfrischt; Blätter sind grün; Tränen sind nass, Haut ist weich, Espresso dampft; Brandy hinterlässt eine angenehm brennende Empfindung am Gaumen; Wind bläst; Schnee wirbelt; Wasser sprudelt – Bedeutung ist nicht länger in der Suche nach Bedeutung versteckt.