Hingabe

von Ngala Nor’dzin Pamo

Das erste Mal stieß ich etwa 1983 oder 1984 auf den schmalen Band „Fünfzig Verse über die Hingabe an den Guru“. Zu dieser Zeit besuchte ich regelmäßig ein Gélugpa-Zentrum mit einem ansässigen tibetischen Geshé. Ich fand das Büchlein beunruhigend und verwirrend. Es schien mir über eine Art von Beziehung zu berichten, die ich nicht hatte, und die zu haben ich mir auch nicht vorstellen konnte. Es brachte mich dazu mich beschämt und unwohl zu fühlen und schien für meine Situation keine Relevanz zu haben.

Heute finde ich diesen Text hilfreich und inspirierend, da ich nun etwas Einblick darin habe, worüber Asvaghosa spricht. Er wurde mir erstmals zum Studium gegeben als ich eine sutrische Praktizierende war. Viele der Anweisungen in dem Text schienen mir vor dem Hintergrund meiner Beziehung zu meinen buddhistischen Lehrern ziemlich extrem. Diese waren spirituelle Freunde (ge-wa’i-she-nyen) und keine Vajra-Lama (Dorje Lopön).

In der Einleitung wird erklärt, dass die Quellen für diese Belehrung in einer Vielzahl tantrischer Texte liegen. Sie ist gegeben worden bevor ein Schüler eine tantrische Einweihung erhielt, damit er versteht wie man an eine Vajraverpflichtung herangeht und wie man sie betrachtet.

Die Übersetzung und der Kommentar scheinen für eine monastische Leserschaft geschrieben und entsprechend angepasst worden zu sein. Das Original hat aber wahrscheinlich alle Aspekte tantrischer Lehre, also auch ngak’phang Lama, sowohl männliche, als auch weibliche, mit Gefährte oder Gefährtin, umfasst. Ich meine, dass es dafür Anhaltspunkte in einem Satz in Vers 26 gibt: Behandle selbst deines Gurus geliebte (Familie) mit dem selben (Respekt) wie ihn.

Es geht aus dem Text nicht klar hervor, ob er aus dem Tibetischen oder aus dem Sanskrit-Original übertragen wurde. Die Passagen in Klammern scheinen die Ergänzungen des Übersetzers zu sein, um den Text flüssiger zu machen. Ich würde behaupten, dass Asvaghosas Original aus dem ersten Jahrhundert tatsächlich lautete: Behandle selbst deines Gurus Geliebte mit demselben Respekt, den du ihm zollst, oder besser: Behandle deines Gurus Geliebte wie ihn selbst. Obwohl dieser Text westlichen Sutraschülern, ohne Wissen über Tantra und Vajrabeziehung, vorgelegt wurde, ist er dennoch ein tantrischer Text über Vajrabeziehung.

Hingabe ist der Boden auf dem Vajrabeziehung funktionieren kann. Ohne Hingabe gibt es keine echte Vajrabeziehung, denn Vajraverpflichtung erfordert, dass wir unsere Vernunft loslassen und eine Beziehung eingehen, in der wir vollständig auf den Lehrer vertrauen. Das, was unser Lehrer von uns verlangt, mag nicht immer logisch oder nicht einmal vernünftig erscheinen. Wenn wir jedoch absolutes Vertrauen in unseren Lehrer und völlige Hingabe entwickelt haben, wird es uns leichter fallen diese Dinge zu versuchen. Wenn wir hingegen an unserem Lehrer zweifeln und lieber unserer Kleinkariertheit und der gewohnten Sicht der Dinge vertrauen, werden wir es schwierig oder gar unmöglich finden etwas zu tun, das unsere Vernunft oder gewohnte Sicht herausfordert. Das wird uns daran hindern Verwirklichung zu erlangen.

Hingabe entsteht für gewöhnlich nicht aus dem Nichts, sondern nur, wenn sowohl der Schüler, als auch der Lehrer außergewöhnlich sind. Sie muss über die Zeit kultiviert und entwickelt werden. Es ist wichtig, dass jemand (wenigstens) Augenblicke echter Inspiration durch und Liebe für den Lama erlebt hat, und, dass er in der Lage ist, sich vorzustellen, große Hingabe zu entwickeln, bevor er in Betracht zieht eine Vajrabeziehung mit diesem einzugehen.

Üblicherweise ist eine Art von Inspiration die erste Erfahrung, die wir mit einem Lehrer verbinden. Nach diesem ersten Eindruck müssen wir mehr Zeit mit Ihnen verbringen und ihre Qualitäten und Fähigkeiten kennen lernen bevor wir sie fragen, ob sie uns als ihre Schüler akzeptieren. Es ist entscheidend, dass wir uns nur einen solchen Lehrer suchen, dem wir auch vertrauen. Wenn wir es nicht für möglich halten, dass sie uns etwas lehren und unsere Praxis fördern können, werden wir ihnen gegenüber keine Hingabe entwickeln, und es gibt keinen Grund warum wir die Beziehung über die eines „Spirituellen Freundes“ hinaus führen sollten. Ebenso müssen wir sehr achtsam und uns dessen sicher sein, was wir tun, bevor wir eine Vajrabeziehung eingehen. Wir müssen uns der Folgen und Verpflichtungen einer solchen Verbindung bewusst sein, und wissen, ob wir dem gewachsen sind.

Es kann auch recht ertragreich sein, allein zu praktizieren und wir können kraftvolle Erfahrungen machen. Aber es werden unweigerlich Fragen auftauchen, und kraftvolle Erfahrungen können zu Ablenkungen werden. Sobald wir mit tantrischer Praxis beginnen, begegnen wir einer Vielzahl von „Gewahrseinswesen-Übungen“. Vielleicht fürchten wir uns vor der Vorstellung zu versuchen als zornvolles Gewahrseinswesen zu erstehen, vielleicht sind wir verblüfft oder schockiert. Es sind mächtige und außergewöhnliche Bilder.

Wie können wir wissen, welche die beste Praxis für uns ist? Wen sollen wir fragen, wenn wir keinen Lehrer haben? Wir haben vielleicht die Gelegenheit viele Einweihungen zu erhalten; Belehrungen können einander widersprechen; wir können vielleicht zu dem Schluss kommen, dass wir Verpflichtungen eingegangen sind, die wir nicht einhalten können – welchen sollen wir nachkommen, wenn wir keinen Lama haben, der uns unsere Praxis erläutert und sie lenkt und uns durch den Irrgarten von Möglichkeiten führt? Nur dadurch, dass wir Wertschätzung und Vertrauen in unseren Lehrer aufbauen, können wir die Übungen ausführen, die uns im Wissen um ihren Wert gegeben wurden. Nur aufgrund der Anleitung durch unseren Lama können wir unsere tägliche Praxis so gestalten, dass sie uns den größten Nutzen bringt.

Unser Lehrer ist ganz darauf konzentriert Belehrungen so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Jeder wache oder schlafende Augenblick ihres Lebens ist der Hilfe anderer gewidmet. Ihr Bemühen ist unermüdlich und endlos. Sie zeigen große Klarheit und Güte. Warum sollte sich unser Lehrer die Mühe machen unsere Fragen zu beantworten? Warum sollten sie sich die Mühe machen zahllose Varianten ihrer Antworten zu finden, damit sie zu unserem speziellen Nichtverstehen passen? Wie nützt ihnen das? Es ist schlicht ihr Wunsch für uns das Bindeglied in der Linie Padmasambhavas zu sein. Es ist ihr Wunsch uns zum Erwachen der Klarheit und des gütigen Geistes zu bringen.

Hingabe ist vollständiges Vertrauen darin, dass der Wunsch des Lama darin besteht, dass der Schüler Rigpa verwirklicht. Hingabe kann sehr bestärken, da sie uns von Zweifeln und Verwirrung befreit und gewährleistet, dass wir offen und wach sind für das Potenzial all jener Zeit, die wir in der Gegenwart des Lama verbringen. In der Vajrabeziehung geht es nicht darum, alle Verantwortung für unsere Lebensentscheidungen abzugeben, sondern darum stets für die Aktivitäten und Wünsche des Lama und die Richtung, in die uns das führen kann, offen zu sein. Es geht darum, Vertrauen in die Fähigkeit unseres Lama zu haben, uns auf eine Weise zu sehen, auf die wir uns selbst nicht sehen können. Diese Qualität der Transparenz versetzt unseren Lama in die Lage Konvention und gewöhnliche Vernunft zu durchschneiden, um mit den ungewöhnlichsten Mitteln in uns Veränderung zu bewirken und die tiefgründigsten Zustände zu verwirklichen.

Hingabe hält den Schüler in in einem wachen und aufnahmefähigen Zustand, wenn er sich in der Gegenwart des Lehrers befindet. Das liegt an seiner Aufmerksamkeit gegenüber dem Lehrer auf jeder Ebene. Übertragung und Verwirklichung ist in jedem Moment möglich, besonders, wenn der Lehrer präsent ist. Deshalb ist es wichtig so aufnahmefähig wie nur irgend möglich zu sein.

Selbst im normalen, alltäglichen Leben, ist jemand, der uns das beibringen kann, was wir lernen wollen, eine Person, zu der wir eine positive Beziehung herstellen wollen. Wir werden ihm gegenüber nicht unhöflich und respektlos sein. Es ist einfach gesunder Menschenverstand sie mit Respekt zu behandeln und offen für das zu sein, was sie zu sagen haben. Wir wollen, dass sie gut von uns denken, damit sie uns gerne etwas beibringen. Wir werden jemanden, von dem wir etwas lernen wollen, nicht unfreundlich behandeln oder gar beleidigen, oder behaupten mehr als sie zu wissen. Sie werden uns nichts lehren wollen, wenn wir uns so benehmen. Sie werden uns nahe legen zu gehen.

Die Methode der Hingabe an den Lehrer ist selbstverständlich, ist formelle Höflichkeit. Möglicherweise sind wir heutzutage im Westen nicht mehr daran gewöhnt Menschen Ehrerbietung und althergebrachte Höflichkeit zu erweisen. Manche wachsen in dem Glauben auf, dass niemand besser ist als sie, und, dass man sich vor niemandem verbeugen sollte. Schulkinder sind häufig unhöflich und unverschämt zu ihren Lehrern, und tun so als gäbe es für sie nichts zu lernen. Die vorherrschende Meinung scheint zu sein, dass Schullehrer für ihre Arbeit bezahlt werden und darum keines besonderen Respektes würdig seien. Es ist eine Arbeit, die sie nur deshalb tun, weil sie dafür bezahlt werden. Das trifft jedenfalls nicht auf deine buddhistischen Lehrer zu. Auch wenn dein Lama keine Geschenke oder kein Geld mehr von den Schülern oder den Menschen, die die Vorträge besuchen, bekommen sollte, kannst du dich darauf verlassen, dass dein Lama dennoch weiterhin seine buddhistische Praxis ausüben wird und weiter versuchen wird die Belehrungen so verfügbar wie möglich zu machen, selbst wenn sie das mit einer herkömmlichen Vollzeitbeschäftigung vereinbaren müssen.

Wenn wir etwas lernen wollen, ist eine respektlose Haltung, in welcher Situation auch immer, unvernünftig. Sie behindert nur das Lernen und Aufnehmen. Durch Hingabe bekennen wir nicht etwa, dass unser Lama besser ist als wir – wir alle haben Buddhanatur – es ist nur so, dass zu dieser Zeit und an diesem Ort unser Lama in der Position ist uns zu helfen. Und nicht nur das, sie sind bereit Zeit und Energie zu verwenden und eine Verpflichtung einzugehen, um uns zu unterstützen. Das ist etwas, das wertgeschätzt werden soll, und diese Wertschätzung muss sich in unserer Haltung und unserem Benehmen widerspiegeln. Wir müssen angemessen handeln. Unsere Höflichkeit und Ehrerbietung sollte ernsthaft und der Entwicklung einer fruchtbaren Beziehung mit unserem Lehrer dienlich sein.

Im tibetischen Buddhismus wird zum Buddha (sang-gye), zum Dharma (chö) und zur Sangha (gen-dün) Zuflucht genommen. Das ist die Anerkenntnis der Tatsache, dass nur durch die Energie, die Güte und die Aktivität des Lama Buddha, Dharma und Sangha zugänglich sind. Damit tantrische Praxis funktioniert, ist eine persönliche Beziehung zu einem Lama notwendig. Diese Beziehung zwischen Vajra-Lama und Vajra-Schüler sollte letztlich die wichtigste Beziehung in unserem Leben werden. Es ist unerlässlich, dass wir das zur Gänze verstehen und uns zu Herzen nehmen. Das ist die einzige Verbindung, die wir in unserem Leben haben werden, welche letztendlich zur Erleuchtung führt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist sie wichtiger als die Beziehung mit unserem Gefährten/unserer Gefährtin, mit unseren Kindern, mit unseren Eltern. Sie sollte auch wichtiger sein als dieses Leben.

Die 50 Verse der Hingabe an den Lehrer empfehlen, dem Lama regelmäßig Ehrerbietung zu erweisen, so wie alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die in allen Ländern der zehn Richtungen residieren, ihre tantrischen Meister verehrt haben, von denen sie die höchsten Einweihungen erhalten haben. Dieses „Ehrerbietung-erweisen“ kann einfach darin bestehen an deinen Lama zu denken, wenn du die Opferschalen füllst oder formell Mandalaopferungen und Niederwerfungen machst. Jedoch sagt der Text, man Niederwerfungen (in der Öffentlichkeit) und unorthodoxe Handlungen (wie Fußwaschungen beim Lama) vermeiden sollte. Es könnte für deinen Lehrer etwas beschämend sein, wenn du darauf bestehst vor ihm auf dem Parkplatz eines Lebensmittelgeschäftes drei Niederwerfungen zu machen!

In Vers 6 wird die Wichtigkeit den Lama zu kennen und zu prüfen erörtert: Damit weder die Ehrenworte des Guru noch des Schülers Schaden nehmen, muss es zuvor eine gegenseitige Untersuchung geben (um festzustellen, ob jeder) eine Lehrer-Schüler-Beziehung wagen kann. Asvaghosa sagt, dass der tantrische Lehrer eine äußerst stabile Person sein sollte, die Körper, Rede und Geist völlig unter Kontrolle hat. Hier ist interessant, dass „gegenseitige Untersuchung“ betont wird. Der Wert des Schülers und der Respekt für den Schüler wird als genauso wichtig erachtet wie der des Lama. Auch scheint es hier in der Formulierung vom „Wagen der Lehrer-Schüler-Beziehung“ ein Anerkennen der Größe des Schrittes der Vajraverpflichtung zu geben. Es ist keine alltägliche Sache uns einem Lehrer für unsere restlichen Leben zu verpflichten. Es ist ein Schritt über Vernunft und Intellekt hinaus. Es ist ein mutiger Schritt.

Der Text bespricht die Gefahren Schüler eines Lama zu werden und diesen dann zu verschmähen. Vers 10: Bist du der Schüler eines solchen beschützenden (Lehrers) geworden und verachtest ihn von ganzem Herzen, dann wirst du fortwährendes Leiden erfahren, so als hättest du alle Buddhas geschmäht. Unter den Leiden, die man sich zuzieht, sind Krankheit, durch Giftschlangen getötet zu werden, und in der Hölle zu kochen. Das ist eine eher kulturell gefärbte Sicht der Probleme, die demjenigen begegnen können, der seinen Lama verachtet. Belehrungen über die niederen Daseinsbereiche waren in Tibet als Ansporn für die Praxis beliebt. Im Westen dagegen können sie den gegenteiligen Effekt haben und ein Grund für die Ablehnung des Buddhismus werden, da sie gegen alle Vernunft zu sein scheinen. Daher macht die Interpretation der niederen Daseinsbereiche als psychische Zustände mehr Sinn. Es ist ja auch nicht sehr hilfreich durch Krankheit und Unglück zur Hingabe ermutigt zu werden.

Unsere Wahrnehmung kann durch falsche Sichtweisen derartig vergiftet werden, dass wir eine höllische Existenz erleben. Unfähig zu sein, jemandem zu vertrauen, der einem nichts als Güte entgegen brachte, der endlose Geduld und Energie in der Unterstützung anderer zeigt, und der eine Menge Zeit und Kraft in unser spirituelles Wohlbefinden investiert hat, ist ein ungesunder psychischer Zustand. Etwas als wertvoll und wichtig zu erachten, den großen Schritt zu machen sich einem Lehrer zu verpflichten, und ihn dann zu verschmähen ist ein wahrhaft höllischer Zustand. Von da an wird unsere Wahrnehmung immer offen für Zweifel sein. Wir werden unfähig sein noch in irgendetwas zu vertrauen, weil wir etwas zurückgewiesen haben, dass wir einmal als sehr wertvoll angesehen haben. Wenn wir damit weiter machen, ist es möglich, dass wir beginnen in den Handlungen unseres Lehrers negative Beweggründe zu sehen oder unseren Lama mit einem unzuverlässigen, dualistischen Maßstab beurteilen. Sind wir eine Beziehung eingegangen, die in ihrem Kern durch Vertrauen, Liebe und Offenheit gekennzeichnet ist, dann werden wir sie als krank, vergiftet und höllisch erleben, sobald wir beginnen sie kritisch zu betrachten.

Asvaghosa betont, wie wichtig es ist, seinem Guru Opfer darzubringen, und zu verstehen, dass es keine Beziehung und keine Sache gibt, die wichtiger ist als die Beziehung zum Vajra-Lama. Wenn wir zu einer Party gehen – einer Situation, von der wir wissen, dass wir Gastfreundschaft und freundliche Aufmerksamkeit erfahren werden – und gute Manieren haben, werden wir selbstverständlich ein Gastgeschenk mitbringen. ‘Opfer’ scheint ein so großes Wort zu sein, aber alles, was es bedeutet, ist, dass wir unsere Wertschätzung für die harte Arbeit unseres Lehrers in unserem Interesse, in Form eines materiellen Geschenkes oder einer Anstrengung ausdrücken. Opfergaben können in einem eigentlichen Geschenk bestehen oder symbolischer Natur sein, wie Wasser in Opferschalen, oder einfach das Denken an unseren Lama und das Senden guter Wünsche.

Ein Schüler mit den guten Qualitäten von Mitgefühl, Großzügigkeit, moralischer Selbstkontrolle und Geduld sollte den Guru nie als verschieden von Buddha Vajradhara sehen. Der Text sagt, dass man nie auch nur auf seines Gurus Schatten treten soll, ganz zu schweigen davon über ihre Schuhe oder ihren Sitz zu steigen oder (gar) auf ihrem Sitz zu sitzen. Dieses Maß an Verehrung mag ein wenig extrem erscheinen, aber es sollte als Methode verstanden werden. Wir können Hingabe so praktizieren wie wir irgendetwas anderes üben. Haltungen anzunehmen und Dinge zu tun, die wir nicht von selbst tun würden, kann Schritt für Schritt ein besseres Verständnis für und einen natürlichen Fluss von Hingabe hervorbringen.

Die Verse 24 und 25 flehen den Schüler an, seinem Guru zu gehorchen und seinem Ratschlag zu folgen. Es macht keinen Sinn nach einer Anweisung zu fragen, wenn man nicht sicher ist, ob man sie befolgen kann oder man kein Vertrauen hat, dass sie nützlich sein wird. Es ist besser, nicht um Rat zu fragen, als einen zu erhalten und ihn dann zu ignorieren. Selbst in einer normalen Beziehung ist es fast schon eine Beleidigung um Hilfe gefragt zu werden und dann seinen Rat ignoriert oder abgelehnt zu finden. Der Schüler sollte den Rat aufmerksam anhören und berichten, nachdem er ihn umgesetzt hat. Wenn man nicht dazu in der Lage ist, die Anweisungen auszuführen, dann sollte man deutlich machen, weshalb man das nicht konnte und sich dafür entschuldigen. Dem Lama wird es höchstwahrscheinlich nicht missfallen, wenn es einen echten Grund dafür gibt.

Das Büchlein geht im Detail darauf ein wie man sich in der Gegenwart des Lama nicht verhalten soll. Was man vermeiden soll, umfasst: auf dem selben Bett sitzen wie er; vor ihm gehen; sitzen oder liegen, wenn der Guru steht; oder in der Gegenwart deines Lama: spucken, streiten, exzessiv schwätzen; mit den Fingergelenken knacken oder die Nägel reinigen; lässig gegen eine Säule oder ähnliches lehnen. Das alles sind wiederum allgemeine gute Manieren. Wenn wir vor jemandem Respekt haben, werden wir in ihrer Gegenwart wach und achtsam sein. Wir werden ihre Ankunft bemerken und aufstehen, wenn sie den Raum betreten. Unser Lama zieht es vielleicht vor, dass wir nicht aufstehen, wenn er hereinkommt. Sie bevorzugen es, wenn sich ihre Schüler um sie herum entspannter verhalten, aber dennoch sollten wir aufhören zu tratschen und lässig herum zu liegen, und uns ihrer Gegenwart bewusst sein, für den Fall, dass sie eine Praxis oder eine Belehrung beginnen oder uns ansprechen wollen. Wir sollten unseren Lama mit Respekt und der passenden ehrenvollen Anredeform ansprechen und uns um ihre Bedürfnisse vor den eigenen Bedürfnissen kümmern.

Wenn du an deinen Lama wegen einer bestimmten Belehrung oder Einweihung herantrittst, solltest du als Schüler wie eine frisch vermählte Braut sein, schüchtern, verlegen und sehr unterwürfig. Eingebildetes und überhebliches Verhalten sollte vermieden werden. Fragen wir unseren Lama nach einer Belehrung oder einer Einweihung, bestätigen wir damit unser Vertrauen in die Stufe ihrer Verwirklichung und in ihre Befähigung uns eine Übertragung zu geben. Wir sollten an diese Situation nicht mit der Einstellung herangehen, dass wir ein Recht haben diese Belehrung oder diese Einweihung zu erhalten, dass wir wissen, dass wir dafür bereit sind und erwarten sie zu erhalten. Wenn unser Lama nicht das Gefühl hat, dass wir bereit sind oder, dass es der richtige Zeitpunkt ist, dann müssen wir ihr Urteil zufrieden akzeptieren.

Wenn es dazu kommt, dass aus dem Schüler selbst ein Lehrer wird und er Zeremonien durchführt und selbst Schüler hat, weist ihn Asvaghosa an: In der Gegenwart seines Gurus sollte sich ein Schüler nicht (wie eine Guru) gegenüber seinen eigenen Schülern verhalten … haltet eure Schüler davon ab, euch Respekt zu zollen wie aufzustehen, wenn ihr hereinkommt und Niederwerfungen zu machen. Wenn wir uns in der Gegenwart unseres Lama und zugleich mit unseren Schülern zusammen befinden, müssen wir uns gegenüber den beiden Rollen, die wir haben, sehr feinfühlig verhalten. Denn nur aufgrund der Güte unseres Lama und der Zeit und Energie, die er in uns gesteckt hat, konnten wir selbst zu einem Lama werden. Darum sollte unsere Haltung das in der Gegenwart unseres Lehrers und unserer Schüler widerspiegeln und wir sollten unsere Schüler auffordern unserem Lama den Vortritt zu lassen.

Wir werden angefleht uns respektvoll zu benehmen und gewissenhaft zu sein, aber Asvaghosa ermutigt uns (auch) realistisch zu sein und den Hausverstand einzusetzen. Er sagt uns, dass wir uns keine Sorgen machen sollen, wenn wir krankheitshalber nicht in der Lage sind uns angemessen zu verhalten. Ein Lama erwartet von einem Schüler mit einem gebrochenen Bein nicht, dass er drei Niederwerfungen macht! Es wird uns gesagt, dass, wenn wir eifrig sind und tun, was unseren Lehrer erfreut, und alles vermeiden, was er nicht mag, wir große Fortschritte machen, in den Fußstapfen des Gurus folgen und ein (geeignetes) Gefäß (für) den reinen Dharma werden.

Asvaghosa widmet den Verdienst des Schreibens dieser Verse dem Wohle aller fühlenden Wesen, in dem er sagt: Da ich nicht den Fehler beging (meine persönliche Interpretation hinzuzufügen) als ich dieses Werk verfasste, möge dies von grenzenlosem Nutzen für alle Schüler sein, die ihrem Guru folgen. Diese Verse wurden Schülern gelehrt, bevor sie Belehrungen oder Ermächtigungen erhielten. Sie wurden auch von Schülern des Tantra täglich rezitiert als laufende Erinnerung an die Wichtigkeit und das Wesen der Vajrabeziehung.

Allgemeines Verhalten und die Art und Weise der Interaktion mit dem Guru werden oft vom Guru selbst vorgegeben. Zum Beispiel kann es sein, dass ein Lama es vorzieht, dass Schüler nur anlässlich zeremonieller Gelegenheiten Niederwerfungen vor ihm machen, und will die Beziehungen entspannter und informeller halten als in diesem Text beschrieben. Hier ist es aber wichtig zu bedenken, dass jede Entspannung in der Formalität der Beziehung vom Lama ausgehen muss, und nicht vom Schüler. Die Fünfzig Verse zur Hingabe an den Guru stellen hervorragende Richtlinien für ein Verhalten mit dem passenden Maß an Respekt und Verehrung dar.

Asvaghosa meint, dass man sich in der Gegenwart des Lama ruhig und entspannt fühlen sollte. Er sagt, dass einem schon der Anblick des Lama Freude bringen sollte. Allerdings können einige Vajrameister ziemlich ernst sein, oder wild, bzw. einschüchternd, so dass wir uns in ihrer Gegenwart recht nervös fühlen, auch, wenn wir uns ihrer mitfühlenden Natur bewusst sind.

Hingabe entsteht aus Vertrauen, Vertrauen in intensivster Form; Vertrauen in die Linie deines Lama; Vertrauen in das Engagement, den Einsatz und die Verwirklichung deines Lama. Seine Persönlichkeitsdarstellung mag sich sehr von der gewöhnlichen Sichtweise „normalen“ Verhaltens unterscheiden. Dein Lama kann auf eine Weise handeln, die dir unorthodox oder sogar skandalös erscheint. Durch Hingabe errichtet der Schüler dem keine Barrieren und ist für Übertragung, die in solchen Situationen stattfinden kann, offen und aufnahmebereit. Übertragung kann durch alles, durch einen Blick, eine Geste, einen Schlag auf den Rücken oder einen schockierenden Kommentar deines Lehrers passieren. Wachheit und eine entsprechende Haltung dem Lama gegenüber, garantieren, dass wir stets für die Möglichkeit von Übertragung offen sind. Die Lebensumstände des Lama mögen chaotisch erscheinen, unorthodox oder von einem gewöhnlichen Standpunkt aus nicht vorhersagbar, aber können wiederum eine Quelle der Inspiration sein, wenn sie als des Lamas Mandala betrachtet werden.

Sämtliche Mängel, die wir in anderen sehen sind wegen unserer dualistischen Sichtweise immer unzuverlässig. Deshalb sollten wir die Persönlichkeit und die Lebensumstände des Lehrers als rein sehen. Hingabe vermeidet, dass unser subjektiver Blick unsere Offenheit für Übertragung und Inspiration blockiert. Wenn wir unseren Lehrer kritisieren und Aspekte ihrer Persönlichkeit missbilligen oder der Meinung sind, dass ihre Lebensweise mit unserer Ansicht, wie ein Lama leben sollte, im Widerspruch steht, dann haben wir unseren Geist für jede Möglichkeit von Übertragung verschlossen. Dadurch nehmen wir vielleicht tiefgründige und geschickte Lehrmethoden nicht an. Der Lama kann uns zur Erfahrung neuer Dimensionen unserer selbst führen. Wenn wir seinem Rat aber nicht folgen, dann versagen wir uns diese Gelegenheit. Der Lama kann unsere gewöhnliche Sichtweise auflösen oder sprengen und das kann in subtiler und überraschender Weise erfolgen.

Guru Yoga ist eine unverzichtbare tantrische Praxis. Im Guru Yoga visualisieren wir den Lama als Gewahrseinswesen. Durch Guru Yoga verschmelzen wir mit dem Gewahrseinswesen oder erstehen als das Gewahrseinswesen, um unsere erleuchteten Qualitäten zu entfalten. Den Lama als Gewahrseinswesen zu betrachten, hilft uns unsere Neigung, Fehler und Mängel in unserem Lehrer zu sehen, zu überwinden. Nur ein Praktizierender mit großer Hingabe ist in der Lage (allein) mit einem Bild seines Lehrers als Mensch aus Fleisch und Blut tiefgreifende Verwirklichung zu erlangen. Wenn wir diese Ebene der Hingabe erreichen können, dann wirkt das wie ein Katalysator für unsere Praxis. Es versetzt unseren Lama auch in die Lage noch wirksamer und hilfreicher zu sein, da er im vollen Umfang seiner Fähigkeiten wirken kann.

Wenn wir uns diese 50 Verse zur Entwicklung von Hingabe an den Guru zu Herzen nehmen, werden wir keine Hindernisse und keine Probleme für uns und unsere spirituelle Entwicklung schaffen. Wir werden offenherzige „Apprentices“, Gefäße in die man die Belehrungen leicht hinein gießen kann. Die Übertragung wird frei und ungehindert von unserem Lehrer (zu uns) fließen.

Dieser Artikel erschien erstmals in Vision, Herbst/Winter 1999, mit dem Titel ‘Lotus der Weisheit – Zuflucht’ von Ngakma Nor’dzin Pamo.