Die Methoden des Men-ngag-dé sind äußerst einfach und direkt. Sie könnten sehr leicht missverstanden werden. Die vier chôg-zhag sind ein Knochengerüst, das durch viele sem’dzin bekleidet wird – die Methoden des Men-ngag-dé. Diese Methoden sind geheim, nicht weil sie gefährlich sind – sondern weil die Kraft der Übertragung aufs Spiel gesetzt würde, wenn sie Menschen gegeben werden, welche diese Methoden nicht verstehen können.
Von den neun Fahrzeugen der Nyingma Tradition ist innerhalb des Aro gTér Dzogchen – Ati-Yoga Yana oder Shintu-Naljor Thegpa – am wichtigsten. Dieses Fahrzeug hat drei Serien von Belehrungen, es umfasst Dzogchen Sem-dé, Dzogchen Long-dé und Dzogchen Men-ngak-dé. Die Sem-dé und Long-dé Serien kamen im 10. Jahrhundert von Indien nach Tibet, aber sie wurden weder verbreitet gelehrt, noch haben sie als lebendige Traditionen in den Haupt-Nyingma Linien überlebt. Beide direkten Ströme von Sem-dé und Long-dé erlebten nach dem 11. Jahrhundert einen Niedergang als religiöse Tradition und haben scheinbar, wenn überhaupt, nur in kleinen Familienlinien überlebt. Men-ngak-dé entstand später, vom 12. Jahrhundert an, und hat sich fortdauernd entwickelt und entfaltet sich bis zum heutigen Tag. Men-ngak-dé ist jetzt die Praxis des Dzogchen, die überwiegend in den Haupt-Nyingma Linien gelehrt wird.
Die Sem-dé Serie ist wegen ihrer Rarität von großem Interesse, und weil sie ein Ngöndro[1] enthält – einen Weg, sich den Dzogchen Belehrungen durch graduelles Entwickeln von meditativer Erfahrung anzunähern. Long-dé und Men-ngak-dé enthalten kein Ngöndro und müssen somit über das tantrische Ngöndro, kyé-rim, und dzog-rim[2], erschlossen werden. Sem-dé sollte insbesondere für westliche Praktizierende des Vajrayana von Interesse sein, nicht nur wegen seiner Rarität, sondern weil es ein Mittel zur Annäherung an die Dzogchen Praxis bietet, das die – Stufen des tantrischen Ngöndro, kyé-rim und dzog-rim, umgeht oder überspringt. Praktizierende der Aro gTér Linie können sich daher glücklich schätzen, weil sie Zugang zu der Praxis des Dzogchen durch die Methode von Dzogchen selbst erhalten. Die Sem-dé Belehrungen aus dem gTérma Zyklus reiner Vision von Khyungchen Aro Lingma enthalten die Ngöndro Praxis der vier Naljors – die vier Grundlagen-Praktiken des Dzogchen, und dies ist die Hauptübung, die innerhalb von Sang-ngak-chö-dzong von den Lehrern/innen unserer Linie vermittelt wird. Dieser Artikel konzentriert sich auf Sem-dé, die Serie der Natur des Geistes, verfolgt seinen Ursprung und arbeitet die Bedeutung dieser Serie innerhalb der Aro gTér Tradition heraus. Aber zuerst werden wir die wichtigsten historischen Praktizierenden des Dzogchen Sem-dé beschreiben.
Vairochana war einer der fünfundzwanzig Schüler von Padmasambhava und wird als derjenige betrachtet, der die Sem-dé und Long-dé Belehrungen nach Tibet brachte. Während der Regentschaft von König Trisong Detsén im 8.Jahrhundert wurde er von Shantarakshita als einer der ersten sieben Mönche in Tibet im neu gegründeten Sam-yé Kloster ordiniert.[3]. Er war ein produktiver Übersetzer und ein Siddha. Trisong Detsén sandte ihn nach Indien, begleitet von einem anderen Mönch, um Belehrungen über Sem-dé und Longdé von Sri Simha zu erhalten, aber es ist nicht klar, ob er noch ein Mönch war, als er nach Tibet zurückkehrte. Diese Belehrungen wurden ihm nachts unter größter Geheimhaltung übermittelt. Es wird gesagt, dass dies in der folgenden Weise geschah: Sri Simha schrieb die achtzehn esoterischen Anweisungen der Serie der Natur des Geistes auf weißer Seide nieder, indem er Milch von einer weißen Ziege[4] benutzte. Die Worte wurden sichtbar, wenn sie über Rauch gehalten wurden. Diese Belehrung umfasst die achtzehn Texte, die als Sems sDe bCo brGyad bekannt sind.
Es gab zu dieser Zeit viele Kritiker des Dzogchen[5], weil diese Belehrungen über die konventionellen Moralvorstellungen hinausgingen, einschließlich des Prinzips von Karma. Die Idee, das Karma nicht ein mechanistisches System von Ursache und Wirkung war, sondern eine illusorische Manifestation von Wahrnehmung und Reaktion, war sehr bedrohlich für die religiöse Hierarchie, – und ist es noch. Die Ansicht, wonach Karma der „Formaspekt“ der Muster war, die in Relation zum „Leerheitsaspekt“ von Chaos wirkten, wurde als nicht förderlich für die Erhaltung der sozialen Ordnung eingeschätzt. Diese Belehrungen wurden geheim gegeben, da sie als zu gefährlich für die allgemeine Bevölkerung angesehen wurden. Ngak’chang Rinpoche sagt zu diesem Thema, dass … es eine fortwährende Politik unter allen sozial repressiven Kulturen zu sein scheint, die Menschen ignorant und an materialistischen Aberglauben der Bestrafung und Vergeltung gebunden zu halten.
Sri Simha gab Vairochana alle Ermächtigungen und Anleitungen der Sechzig-Tantra Pitaka zusammen mit denen des Long-dé (Serie des Raumes). Vor der Rückkehr nach Tibet traf Vairochana auch Garab Dorje, den ersten menschlichen Lehrer des Dzogchen, von dem er weitere Belehrungen erhielt. Bei seiner Rückkehr lehrte er alles, was er erfahren hatte, ebenso in Geheimhaltung und übersetzte die ersten Sem-dé Texte ins Tibetische. Nach dieser Zeit war er gezwungen ins Exil zu gehen, weil von der indischen Fraktion, die den Zugang zu den Dzogchen Belehrungen verhindern wollte, bösartige Gerüchte verbreitet wurden. Als sie entdeckt hatten, das Vairochana diese Belehrungen entgegen ihrem Wunsch erhalten hatte, sparten sie nicht an Bemühungen bei ihren Versuchen, ihn in seinem eigenen Land in Misskredit zu bringen. Die indische Fraktion fürchtete, dass Dzogchen an „Tibet verloren gehen könnte“, und um dies zu verhindern, verbreiteten sie das Gerücht, dass Vairochana nur eine Serie von Zaubersprüchen, die nichts mit Dzogchen zu tun hatten, nach Tibet zurückgebracht habe. Die Minister des Königs befanden, dass Vairochana exekutiert werden sollte, aber der König war damit nicht einverstanden und brachte es zuwege, einen Bettler zu nehmen, der Vairochana physisch ähnlich war, in den Fluss zu werfen, während Vairochana selbst sich in einem hohlen Pfeiler im Palast versteckte.[6] Eines nachts entdeckte die Königin ihn dort, woraufhin sie die Minister des Königs informierte und der König sich gezwungen sah, mit Vairochanas Verbannung einverstanden zu sein.
Im Exil in Tshawarong nahm Vairochana Yudra Nyingpo als Schüler an. Yudra Nyingpo war schließlich verantwortlich, Vimalamitra bei der Übersetzung der späteren Texte des Sem-dé ins Tibetische zu helfen, und währenddessen unterstützte er auch seinen Lehrer dabei, aus dem Exil nach Tibet zurückzukehren. Zu dieser Zeit gab Vairochana Pag Mipham Gönpo mündliche Anweisungen zur Dzogchen Long-dé Serie. Pag Mipham Gönpo (der unbesiegbare Greis) war ein physisch gebrechlicher Mann von fünfundachtzig, als er anfing zu praktizieren, so dass der Meditationsgurt und ein Stock, welche Teil der Übermittlung waren, sich als sehr nützlich erwiesen. Viele Leute glauben, dass Vairochana ihm den Meditationsgurt und einen Stock gab, um aufgrund seines Alters sein Kinn abzustützen und ihn in seiner Position zu halten, aber dies ist nicht richtig. Der Gurt und der Stock sind ein essentieller Aspekt der Long-dé Praxis und werden von Praktizierenden jedes Alters benutzt.[7] Entsprechend des Textes von Dud’jom Rinpoche Die Geschichte und Grundlagen der Nyingma Schule
wird gesagt, dass seine Familie über die Idee von ihm lachte, in einem so späten Stadium des Lebens mit der Praxis anzufangen, aber er erlangte die Befreiung[8]. Es wird auch gesagt, dass er zu dieser Zeit ungeheuer fröhlich wurde und Vairochana umarmte und ihn einen ganzen Tag lang nicht mehr losließ.
Er lebte noch weitere hundert Jahre und übermittelte die Belehrungen an seine Schüler und jeder von ihnen erlangte den Regenbogenkörper. Vairochana übermittelte die Sem-dé Belehrungen auch an Nyak Jnana Kumara, welcher in Yarlung im späten achten Jahrhundert geboren wurde. Er wurde als Mönch ordiniert und entwickelte sich zu einem brillanten Übersetzer. Nachdem Trisong Détsen starb, musste er in seinen späten Zwanzigern, wie Vairochana, seine Zeit im Exil verbringen. Sein Leben war nicht einfach. Sein Bruder entwickelte ihm gegenüber eine heftige Abneigung und verkündete, dass er ein Anhänger von extremistischen Mantras wäre.[9] Er gewann das Vertrauen der Leute zurück, indem er dort, wo er lebte, kostbare Edelsteine manifestierte, aber sein Unglück hielt an und er wurde von Widersachern verfolgt.[10] Glücklicherweise traf er im Zuge seiner Reisen auf Vimalamitra und empfing Belehrungen von ihm.
Nubchen Sang-gyé Yeshé wurde ein Student von einem der Schüler von Nyak Jnana Kumara und er bekam auch Belehrungen von Padmasambhava, Yeshé Tsogyel und vielen anderen Meistern. Später als Langdarma, der König jener Zeit, die monastischen Institutionen verfolgte, geschah es durch Nubchen Sang-gyé Yeshés Freundlichkeit, dass die Mantra-Anhänger, die die weiße Robe und langes geflochtenes Haar trugen, von der Verfolgung Langdarmas[11] unbeschadet blieben, obwohl seine eigenen zwei Söhne während der Regentschaft des Königs getötet wurden. Nubchen Sang-gyé Yeshé jagte dem König einen Schrecken ein, indem er mit einem Finger zum Himmel zeigte und einen schwarzen eisernen Skorpion von der Größe eines Yaks entstehen ließ. Er demonstrierte auch, wie er einen Blitz manifestieren und ihn benutzen konnte, um Felsen in Stücke zu zerschmettern. Darüber hinaus war er auch ein großer Schreiber des Sem-dé.
Aro Yeshé Jungne[12] war ein Lehrer und Schreiber des Sem-dé im zehnten Jahrhundert. Sein System der Belehrung war als Kham-lug bekannt, da er aus der Kham Region in Tibet stammte. Er verfasste ein System des Sem-dé, das bekann wurde als die sieben Sitzungen von Aro. Seine Belehrungen und schriftlichen Werke hatten einen starken Einfluss auf Dzogchen Sem-dé aber sein Leben bleibt verborgen.
Rongdzom Chökyi Zangpo war ein großer Meister des Dzogchen im elften Jahrhundert. Im Alter von elf Jahren war er imstande, Belehrungen nach einmaligem Hören zu erinnern. Aus diesem Grunde war er als Emanation von Manjushri bekannt. Er besaß auch große Siddhis und während der einhundertundneunzehn Jahre, die er lebte, hatte er viele Schüler, schrieb produktiv und entwickelte das als Rong-lug bekannte System der Belehrung. Viele andere Linien verbreiteten sich danach, aber nach dem elften Jahrhundert ging sie zurück. Im siebzehnten Jahrhundert war das Sem-dé als eine separate, lebendige Tradition ausgelöscht. Rig’dzin gTér-dag Lingpa, einer der großen Nyingma gTértöns, stellte fest, dass praktisch nichts vom Sem-dé in seinen Tagen überlebte (siebzehntes Jahrhundert), außer der Übertragung des rLung (Erlaubnis zu Praktizieren).
Sem-dé wurde zu einer Zeit der Ausbreitung buddhistischer Belehrungen nach Tibet gebracht. Ordinierte Praktizierende schlossen Mönche/Nonnen (Ordination auf dem sutrischen Fahrzeug basierend) und Ngakpas/Ngakmas (Ordination auf dem tantrischen Fahrzeug basierend) ein. Zusätzlich waren da natürlich die Laienyogis und Yoginis, eine Gruppe der nicht ordinierten Praktizierenden. Aus der Sicht des Dzogchen kam Ordination nicht in Erwägung, da es kein Fahrzeug der rituellen Praxis ist. Die historischen Aufzeichnungen dieser Zeit sind nicht explizit in ihrer Beschreibung, zu welcher Art von Praktizierenden die großen Linienhalter gehörten.
Sowohl von Vairochana als auch von Nyak Jnana Kumara wird gesagt, sie seien als Mönche ordiniert gewesen. Wie auch immer, Linienzeichnungen in der Nyingma Schule des Tibetischen Buddhismus
von Dud’jom Rinpoche stellen alle dar und Vairochana mit langem Haar und yogischer Kleidung. Es scheint der Fall zu sein, dass die meisten dieser Praktizierenden entweder zu der Ngakphang Sangha oder zu dem yogischen Dzogchen-Stil der Laien-Praxis gehörten.
Sem-dé ist die Serie der Natur des Geistes. Wie dieser Titel erwarten lässt, beinhaltet es detaillierte Belehrungen zur Natur des Geistes und wie sich dieser vom dualistischen Geist unterscheidet. Es beschreibt im Detail, wie der dualistische Geist von der Praxis beeinflusst wird, besonders in Hinsicht auf die Sem-nyams – die Erfahrung von Leerheit und Form, durch welche man die augenblickliche Präsenz von Rigpa entdeckt.
Im Aro gTér sind die Belehrungen über Sem-dé in zwei Teile geteilt. Der erste von diesen ist eine tatsächliche Praxis des Ngöndro, bzw. vorbereitende Übungen, die als „die vier Naljors“ bekannt sind.[13] Der zweite Teil ist die definitive Praxis des Sem-dé, die vier Ting-ngé-dzin (Versenkung oder Samadhis). Das Ziel einer jeden Ngöndro Praxis in jedem Fahrzeug ist es, den Praktizierenden an den Ausgangspunkt des Fahrzeugs zu bringen. Das tantrische Ngöndro, welches das im Westen am meisten bekannte ist, bringt seine Praktizierenden zur Basis des Tantra, welche die Erfahrung der Leerheit ist. Es verbindet diese mit den Erfahrungen des vorausgehenden Fahrzeugs [14] und ist, weil es das tantrische Ngöndro ist, seiner Natur nach tantrisch. Zum Beispiel ist die Praxis des Lama’i Naljor pures Tantra. Ebenso enthalten die vier Naljors detaillierte Belehrungen zur Natur des Geistes, welche die sowohl im Sutra als auch im Tantra gesammelten Erfahrungen verbinden. Das erlaubt dem Praktizierenden an die Basis von Dzogchen zu gelangen, welche die Erfahrung der Nicht-Dualität ist, um dann mit der tatsächliche Sem-dé Praxis der vier Ting-ngé-dzin (nÈpa, gYowa, Nyam-nyid und Lhundrüp) zu beginnen. In der gleichen Weise, wie das tantrische Ngöndro der Praxis von Tantra ähnelt, gleicht das Dzogchen Ngöndro der Praxis des Dzogchen. Das vierte Naljor ist Lhundrüp, die Integration der nicht-dualen Erfahrung ins alltägliche Leben. Dies ist natürlich nichts anderes als die Praxis von Dzogchen selbst.
Die heute verfügbaren Dzogchen Belehrungen sind meistens die des Men-ngak-dé, weil dies die Tradition war, welche überlebte und florierte. Es sind nur sehr wenig Belehrungen des Sem-dé Ngöndro und des Ting-ngé-dzin verfügbar und auch nur wenige des Long-dé. Men-ngak-dé ist die Serie der impliziten Anweisungen. Das Wort implizit
wird benutzt, weil die Bedeutung der Anweisungen nur für den Praktizierenden zugänglich ist, der sich in einem Zustand befindet, in dem er sie erkennen kann. Mit anderen Worten, es ist nicht verborgen, noch ist es explizit – es ist implizit. Die Übertragung des Verständnisses der Praxis ist in der Anweisung für die Praxis selbst enthalten. Das wird dem Schüler vom Lehrer in einer sehr kryptischen Weise in Übereinstimmung mit den vier Chog-zhag gegeben.[15] Der Chog-zhag des Körpers ist: wie auch immer die Position des Körpers ist, es ist die richtige für die Integration mit Rigpa. Der Chog-zhag der Augen ist: wohin auch immer sie schauen, ist, wohin sie schauen. Der Chog-zhag des Fokus’ der Augen ist: wohin auch immer der Fokus der Augen gerichtet ist, ist da, wo ihr Fokus gefunden wird. Der Chog-zhag des Geistes ist: was auch immer im Geist auftaucht, ist bereits integriert mit Rigpa. Dies ist ein Beispiel für die Belehrungen der vier Chog-zhag. Die implizite Anweisung ist, dass da weder etwas zu verändern noch zu verwandeln ist. Da ist nichts zu tun, nirgendwohin zu gehen, keiner Praxis zu folgen. Wenn dies nicht sofort verstanden wird, sind Fragen nutzlos – da sind keine Antworten jenseits direkter Kommunikation der vier Chog-zhag. Da gibt es nichts zu fragen, weil da nichts zu tun ist, außer dem Erkennen, dass du nie woanders gewesen bist, als im Zustand von Rigpa. Wenn der Praktizierende im nicht-dualen Zustand ist, dann ist da natürlich nichts zu tun und nirgendwo anders hinzugehen.
Das Men-ngak-dé enthält keine detaillierten Belehrungen über den Geist und die Natur des Geistes; somit ist es viel schwerer, einen Zugang zu der Bedeutung der Belehrungen zu bekommen oder in Relation zu einem sich entwickelnden Verständnis zu entdecken und zu praktizieren. In der Tat ist es unmöglich, Men-ngak-dé zu praktizieren, wenn man keine Erfahrung des nicht-dualen Zustandes hat. Sofern man nicht zuerst entweder das Sem-dé Ngöndro oder die Fahrzeuge von Sutra und Tantra praktiziert, ist es unwahrscheinlich, den nicht-dualen Zustand zu finden. Aber der nicht-duale Zustand ist das notwendige Sprungbrett, um die Men-ngak-dé Belehrungen zu verstehen und zu praktizieren. Dies erklärt in einer gewissen Weise, warum vieles in der zur Zeit verfügbaren Belehrung über Dzogchen kryptisch ist und innerhalb des Kontextes des tantrischen Trainings eingeführt wird. Es erklärt auch, warum viele Nyingma Lamas so zögerlich sind, Dzogchen zu lehren. Die Methoden des Men-ngak-dé sind sehr, sehr einfach und direkt und könnten leicht missverstanden werden. Die vier Chog-zhag sind ein skelettartiger Rahmen, umhüllt von vielen Sem-dzin – Methoden des Men-ngak-dé. Diese Methoden sind geheim – nicht weil sie gefährlich sind, sondern weil die Kraft der Übertragung gefährdet wäre, wenn sie an Leute weitergegeben würden, die sie nicht verstehen könnten.
Die Aro gTér Linie hat Belehrungen von jeder der drei Serien in ziemlich ausgewogenem Verhältnis. Das ist ungewöhnlich, da Sem-dé in den meisten der anderen Linien der Nyingma Tradition ausgestorben ist.[16] Das erklärt, warum in der Aro gTér Linie von Praktizierenden nicht gefordert wird, das tantrische Ngöndro zu beenden. Sie gewinnen die notwendigen Erfahrungen durch das Praktizieren des Sem-dé Ngöndro, also der vier Naljors. In der Aro gTér Linie bestehen die Dzogchen Sem-dé Belehrungen aus den vier Naljors, den vier Ting-ngé-dzin und Trül-khor Naljor (Yantra Yoga). Die Dzogchen Long-dé Belehrungen bestehen aus den vier Da (Anleitungen, die sich auf Sinneserfahrungen aufgrund physischer Positionen und Druckpunkte beziehen) und sKu-mNyé. Die Dzogchen Men-ngak-dé Belehrungen bestehen aus den vier Chog-zhag und den A-tri Übungen.
1. Ngöndro bedeutet Vorbereitungs- oder Grundlagenpraxis. Wörtlich bedeutet Ngöndro „vor dem Gehen“ und es wird in der Regel als die Vorbereitung der tantrischen Praxis verstanden, d.h. 100000 Niederwerfungen, 100000 Mandala Opferungen, 100000 Dor-sem Rezitationen und 100000 Wiederholungen des Lama’i Naljor.
2. Kyé-rim ist die Entwicklungsstufe von Tantra und Dzog-rim die Vollendungsstufe. Beide Phasen sind in der Regel notwendig, bevor der Übende sich den Dzogchen Belehrungen annähern kann. Kyé-rim ist hauptsächlich die Praxis der Bewusstseinswesen und Dzog-rim ist hauptsächlich die Praxis der räumlichen Nerven, Winde und elementaren Essenzen
3. Nach Ngak’chang Rinpoche impliziert dies nicht, dass Vairochana für den Rest seines Lebens ein Mönch blieb. Ngak’chang Rinpoche legt absolut eindeutig dar, dass es eine übliche Option für Praktizierende in dieser Zeit war, Mönchstum für eine begrenzte Zeit anzunehmen. Ein Mönch zu werden, oder eine Nonne, wie im Fall von Yeshé Tsogyel, repräsentierte die sutrische Phase ihres Trainings (siehe: „Sky Dancer“ von Keith Dowman).
4. Es wird auch gesagt, dass diese Texte auf Ziegenhaut niedergeschrieben wurden.
5. Es gab viele Kritiker des Dzogchen in Tibet während seiner buddhistischen Geschichte und dieses Muster hält bis zum heutigen Tag an. Die Kritiken basieren häufig entweder auf der angenommen Ähnlichkeit mit Ch`an oder auf der Vorstellung, dass es eine shivaistische Häresie ist. Infolge der Leidenschaft der Kritik über ein Jahrtausend haben Nyingma-Gelehrte die Position des Dzogchen als authentisches Fahrzeug diskutiert, indem sie die Sprache und Konstrukte sowohl vom Sutra als auch vom Tantra verwendet haben. Als Ergebnis wurde Dzogchen seit der Zeit von Jig’mèd Lingpa schrittweise mehr und mehr ritualisiert. Das ist ein anderer Grund für die Betonung, die auf das Tantrische Ngöndro als Vorbereitung gelegt wird, vor dem Erhalten von Dzogchen Belehrungen oder dem Engagement in Dzogchen Praxis.
6. Die höchst fragwürdige Natur dieses Verhaltens scheint in dem Text nicht angesprochen worden zu sein.
7. Der Meditationsgurt wird Gom-tag genannt und der Stock wird als Gom-ten (Unterstützung) oder Gom-shing (Stock) bezeichnet. Es gibt Gom-tags von mindestens vier unterschiedlichen Längen und auch unterschiedliche Arten von Gom-ten. Sie werden in verschiedenartigen Kombinationen benutzt, um eine Serie von hoch spezifischen Meditationshaltungen zu unterstützen, welche die Körperhaltung mit dem Funktionieren des Tsa-rLung Systems koordiniert (räumliche Nerven und räumlicher Wind).
8. In Übereinstimmung mit anderen mündlichen Quellen wurde angenommen, dass er ein Mönch war, aber das ist zweifelhaft. Dies ist wahrscheinlich ein weiterer der vielen Fälle, wo Yogis und Yoginis als Mönche oder Nonnen dargestellt werden, um die Geschichte der verschiedenartigen Traditionen zu „monastizieren“.
9. H. H. Dud’jom Rinpoche, Nyingma School of Tibetan Buddhism; Band 1. Wisdom Publications (1991), Seite 601
10. Die Dinge scheinen sich nicht großartig mit dem Voranschreiten der Geschichte verändert zu haben. Wir müssen nicht sehr weit blicken, um die gleiche Sache sich heute abspielen zu sehen.
11. H. H. Dud’jom Rinpoche, op. cit. , Seite 612
12. Von dem, was wir soweit von der Aro gTér Tradition wissen, gibt es keine offensichtliche Verbindung zwischen Aro Lingma oder Aro Yeshé mit Aro Yeshé Jungné. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Namensgleichheit zufällig zu sein.
13. Naljor ist das tibetische Äquivalent zu dem Sanskritwort Yoga. Aber in der Dzogchen Tradition hat es nicht die Bedeutung von Vereinigung oder Verbindung. Im Dzogchen hat das Wort eine Bedeutung, die näher an seiner tibetischen Etymologie ist: „nal“ stammt von „nalwa“, was „natürlicher Zustand“ bedeutet und „jor“ stammt von „jorpa“, was „verbleiben“ bedeutet. Folglich bedeutet Naljor „im natürlichen Zustand verbleiben“.
14. M-Do Sutra
15. Chog-zhag bedeutet „Es belassen wie es ist.“
16. Namkha’i Norbu Rinpoche lehrt vom Sem-dé aus und ist sehr vertraut mit beidem, den vier Naljors und den vier Ting-ngé-dzin, aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung können wir keine Referenz zu der Herkunft dieser Belehrungen in Hinblick auf seine Linie geben. Wir wissen von den Bön-Belehrungen, die wir in den USA gehört haben, dass diese Belehrungen auch in der Bön Tradition gegeben werden. Es ist gut möglich, dass noch vorhandene Linien des Sem-dé innerhalb der weniger bekannten Nyingma Familienlinien bestehen. Geschichtliche Untersuchungen über die tibetische Tradition sind in ihren Anfängen und neue Informationen kommen im Laufe der Zeit in wissenschaftlichen Abhandlungen und Büchern ans Licht. Wenn weitere Informationen zur Verfügung stehen, werden sie in eine überarbeitete Version dieses Artikels einfließen.
Bibliography: Samten Gyaltsen Karmay, The Great Perfection. E. J. Brill, 1988.