Dzogchen stellt jedes menschliche Wesen als sich durch bewegende Energiemuster belebt dar; reich, lebendig und kraftvoll. Wir können diese subtilen Landschaften der Energie in uns selbst entdecken. Wir können ihre Tiefe erfahren und mit ihren pulsierenden Harmonien im Einklang sein. Das Gewahrsein des Raumes dieser Resonanz ermöglicht uns auf Dimensionen der Vitalität zu stoßen, die außergewöhnlich sind. Wenn auch diese Landschaften der inneren Energien ein vertrautes Territorium der fortgeschrittenen Dzogchen Praktizierenden sind, sind sie keineswegs jenseits unserer Möglichkeiten. Jeder der ernsthaft interessiert ist und sich einer täglichen Praxisstunde von physischen Übungen und Meditation verpflichtet, kann kurze Einblicke des weiten Horizonts von Brillanz und Präsenz, die Dzogchen gewährt, entdecken.
Dzogchen bedeutet ‚vollkommene Totalität‘ und bezieht sich auf den natürlichen befreiten Zustand jedes Individuums. Dieser Zustand der angeborenen Erleuchtung ist immer vorhanden, in seiner vollkommenen Totalität – einfach wartend, um aufgedeckt zu werden.
Dzogchen ist das Innerste der drei inneren Tantras und unterscheidet sich wesentlich von der rituellen, liturgischen Form der anderen Tantras. Einige Methoden, die von Dzogchen Lamas gelehrt werden, haben viel mit Hatha Yoga gemein, aber es gibt ebenso physische Übungen, die keine Gemeinsamkeiten mit östlichen oder westlichen Übungen aufweisen.
Ein solcher Zyklus von psycho-physischen Übungen ist sKu-mNyé (kuu mnye gesprochen). sKu-mNyé heißt ‚Massage des Energiekörpers‘. Der ‚Energiekörper‘ wird das rTsa rLungSystem genannt. rTsa rLung ist ein System, das in der Vajrayana Tradition von Tibet einzigartig ist. Das rTsa-rLung System besteht aus ‚Nerven‘, die rTsa genannt werden und die Energieströme, die sie tragen, heißen rLung. Es gibt verschiedene Systeme von sKu-mNyé in den Tibetisch Buddhistischen Schulen, aber das sKu-mNyé von Aro Lingma ist das einzige, das mit Dzogchen verbunden ist. Khyungchen Aro Lingma (1886 – 1923) war ein weiblicher Lama der Nyingma Tradition. Sie war eine gTértön, ein visionärer Lama, die als Kind Offenbarungen direkt von Yeshé Tsogyel erhielt. Yeshé Tsogyel ist der weibliche Buddha, dessen Emanationen seit dem neunten Jahrhundert bis zum heutigen Tag erscheinen. Eine dieser visionären Offenbarungen von Aro Lingma ist das sKu-mNyé System, das zurzeit von Ngak’chang Rinpoche and Khandro Déchen gelehrt wird – einem lehrenden, verheirateten Paar der Nyingma Schule des Vajrayana, das im Tal von Glamorgan in Wales lebt.
Frage Ist das sKu-mNyé von Aro Lingma gleich dem sKu-mNyé, das bekannt wurde durch Tarthang Tulkus Bücher Entspannung durch Kum Nye?
Khandro Déchen Nein, es ist wirklich sehr verschieden. Das mag ein wenig überraschend klingen, aber es gibt verschieden Systeme des sKu-mNyé. Zum Beispiel kennt Ngakpa Rinpoche eines, das es in der Gélug Schule des Tibetischen Buddhismus gibt, welches einer Kombination von Hatha Yoga und Pranayama sehr ähnelt. Dies unterscheidet sich auch sehr vom System, das Tarthang Tulku lehrt. Vermutlich haben alle Schulen verschieden Formen von sKu-mNyé.
F Aber alle haben dasselbe Prinzip.
Ngak’chang Rinpoche Man könnte so denken, aber nein. Das Wort sKu-mNyé ist eigentlich beides, ein äußerst präziser Begriff und ein Begriff, der die ganze Breite der bio-energetischen Arbeit abdeckt. Es ist wie das Wort Rigpa. Rigpa kann einfach Wissen oder Intelligenz bedeuten – sowie in Zo-rigpa, das Wissen, das im Zusammenhang mit Kunst steht – oder es kann bedeuten: Präsenz des Gewahrseins in der Kontinuität des Geistes – durch das Erscheinen und Auflösen dessen, was im Geist auftaucht. Dies ist entsprechend dem Dzogchen die Definition von Rigpa. Tarthang Tulkus Kum-nye ist in den medizinischen Tantras begründet, hingegen das sKu-mNyé von Aro Lingma basiert auf dem Dzogchen Long-dé. Die Prinzipien sind daher grundsätzlich verschieden. Das Prinzip des Dzogchen ist Selbstbefreiung und das Prinzip des Tantra ist Transformation.
KD . . . … wenn wir nun das Wort sKu-mNyé gebrauchen, ist es ein wenig wie das Wort ‚Übung‘ zu gebrauchen. Sagt jemand, er macht physische Übungen, dann kann man nicht wirklich sicher sein, welche Art von Übungen gemeint sind. Es kann Aerobic sein, Gymnastik, Gewichtheben oder was auch immer. sKu-mNyé,wie das Wort im Aro gTér benutzt wird, hat das Prinzip, profunde Erfahrungen der Essenz der Elemente zu erzeugen. Dieses Prinzip zu beschreiben würde für die gegenwärtige Diskussion enorm technisch werden, aber ich würde sagen, dass die anderen Formen von sKu-mNyé mehr mit der Atemregulierung als einem Mittel zur Stabilisierung des konzeptuellen Geistes im Zusammenhang stehen. Diese Praktiken sind mit Tantra verbunden. Das sKu-mNyé von Aro Lingma ist Teil des Long-dé Zyklus und umgeht vollständig die Rolle des konzeptuellen Geistes.
F Kannst du erklären, woraus sKu-mNyé besteht?
KD Es ist bemerkenswert unterschiedlich. Es enthält einige Übungen, die physisch nicht allzu anstrengend sind, und andere sind so außerordentlich aerobisch, dass sie selbst jemanden, der sehr sportlich ist, ziemlich beanspruchen. Für einige braucht man beachtliche Stärke und Beweglichkeit, aber für die meisten ist eine durchschnittliche Fitness ausreichend. Es gibt sogar einige, die so anspruchslos sind, dass sie fast von jedem ohne übermäßige Anstrengung praktiziert werden können. Einige sKu-mNyé Übungen sind einfache Sitzhaltungen, in denen die Bewegungen sehr langsam und gleichmäßig sind. Einige erfordern eine erstaunliche Koordination und ein ziemlich ausgeprägtes Gefühl für Balance. Einige sind so ungewöhnlich, dass es sehr schwierig ist sie zu beschreiben. Ich würde sagen, dass es sKu-mNyé Übungen für eine außergewöhnlich breite Vielfalt von Körpertypen und Stufen der Beweglichkeit gibt. Dies macht sie höchst vielseitig anwendbar in Bezug darauf, die Übungen das ganze Leben hindurch auszuführen. Sie sind gewiss sehr unterschiedlich zu anderen physischen Übungen. Der beste Weg sie euch vorzustellen ist wahrscheinlich sie zu demonstrieren. (siehe Übungen).
F Es ist schwer sich vorzustellen, dass etwas so unterschiedlich zu anderen Arten von physischen Bewegungen sein kann. Gibt es etwas, das wenigstens irgendwie ähnlich ist. Würde die Frage der Balance es etwa dem Ta’i Chi gleich machen?
NR Nein – es ist nicht wie Ta’i Chi… Wir haben Menschen mit Erfahrung in Ta’i Chi gelehrt und haben entdeckt, dass sKu-mNyé eine andere Form von Balance erfordert.
F Du sagst also, dass das Gefühl für Balance, das für die verschiedenen Disziplinen erforderlich ist, nicht dasselbe ist?
NR Ja. Also, zumindest für sKu-mNyé und Ta’i Chi.
F Würdest du das auch von sKu-mNyé und Hatha Yoga sagen?
NR Ich weiß es nicht … Wir haben noch nie Menschen mit viel Erfahrung in Hatha Yoga unterrichtet. Ich weiß nicht, was diese Differenz ausmacht, da ich nie Ta’i Chi praktiziert habe, aber ich meine, dass es an der Tatsache liegt, dass sKu-mNyé die physische Desorientierung anstrebt, hingegen scheint das im Ta’i Chi nicht so zu sein. Jedoch … jemand sagte mir, Aspekte des sKu-mNyé seien wie Chi-gung in bezug auf physische Koordination. Aber von dem was ich von Chi-gung gesehen habe, würde ich sagen dass Konzepte über Ähnlichkeiten nicht besonders hilfreich sind. Ich denke es ist besser diese unterschiedlichen Systeme als eigenständige Bereiche zu betrachten. Eine Ähnlichkeit in verschiedenen Systemen zu suchen kann tatsächlich das eigene Verständnis verzerren – vor allem wenn das Verständnis noch nicht ganz vorhanden ist. Wie auch immer… Im sKu-mNyé liegt die besondere Betonung auf den Augen. Die Augen werden während des Ausübens der Praxis und in der darauf folgenden Meditation weit offen gehalten und unbewegt. Weite Bewegungen des Rumpfes, der Arme und Beine sind charakteristisch, aber der ungewöhnliche Aspekt ist das ‚Kreisen‘ des Kopfes.
F Ich glaube, es gibt eine Rotation des Kopfes im Hatha Yoga?
KD Ja, aber das Kreisen im sKu-mNyé ist sehr klein gehalten. Wenn man sich einen mit der Nase gezeichneten Kreis vorstellt – sollte der Umfang nicht größer sein als ein inch (2.54cm). Es ist schwer sie klein zu halten, denn die Tendenz geht dahin größere Kreise zumachen. Unbewegte Augen zusammen mit dem Kreisen benötigt Zeit zum Perfektionieren, aber es wird durch Fähigkeit im Raum zu fokussieren erleichtert. ‚Im Raum fokussieren‘ bedarf einer Erklärung. Es bedeutet nicht ‚ausserhalb des Fokus‘. Fokussieren im Raum heißt, man ist im Fokus, aber es ist kein greifbares Objekt oder keine Oberfläche, die als Bezugspunkt dient, in dem unser Fokus verweilt.
F Das klingt ziemlich schwierig. Ich kann mir vorstellen, dass es eines langen Trainings bedarf, um dies zu tun. Welchen Grund gibt es für Kreisen im sKu-mNyé?
KD In das Kreisen sind zwei aktive Prinzipien einbezogen. Als erstes ist hier der Dzogchen Blick. Die Methode des Dzogchen Blicks desorientiert den konzeptuellen Geist. Zweitens ist da das Kreisen. Kreisen massiert die rTsa, die räumlichen Nerven, aber das geschieht mehr durch Bewegung als durch die Kontrolle des Atems. Wenn der konzeptuelle Geist desorientiert ist, sind wir offen die außergewöhnlichen Erfahrungen wahr zu nehmen, die durch Massieren der rTsa frei gesetzt werden. Es gibt zahlreiche rTsa im Nacken, die mit den Augen verbunden sind – so aktiviert Kreisen diese rTsa und eröffnet gleichzeitig eine subtile Dimension visionärer Erfahrung.
F Könnte man damit auf eine ungewöhnliche Art zu sehen beginnen?
KD Möglich, aber hier betrifft das Wort ‚Vision‘ alle Sinne. Zunächst wären da fühlbare Visionen. Dann allmählich folgen die anderen Sinnesfelder, bis visuelle Erfahrungen aufzutauchen beginnen. Es mag schwierig klingen, aber alle können ihre rTsa-rLung Energie erfahren, wenn sie Enthusiasmus und Eifer haben. Man muss das Gefühl von Schwindel und Gleichgewichtsstörung überwinden – jedoch tauchen diese Empfindungen nur auf, wenn man nicht im Raum fo‚kussiert ist. Zu lernen im Raum fokussiert zu sein ist entscheidend im sKumNyé, darum ist es sehr wichtig, zuerst den Blick zu praktizieren. Man tut das, um die Augen vom Suchen nach ‚Formen‘ abzuhalten, denn sie neigen dazu sich auf diesen niederzulassen.
F Dies muss ein bedeutungsvoller Aspekt im Dzogchen sein.
KD Ja. Dies ist etwas, das im Dzogchen Long-dé wesentlich ist. Die Augen sind sehr wichtig in allen Dzogchen Systemen. Die Augen beziehen sich immer auf das, was auf der Ebene des Geistes und der Natur des Geistes geschieht. Man sieht, es sind nicht wirklich die Augen, die nach ‚Form‘ Ausschau halten – es ist der konzeptuelle Geist, der danach sucht. Genau genommen ist es der konzeptuelle Geist, der durch alle Sinne nach den Formen sucht.
F ‚Geist‘ und ‚Natur des Geistes‘? Kannst du das erklären? Was ist der Unterschied?
KD Was Dzogchen betrifft, ist Geist oder ‚mind‘ die Ebene der Konzeptualität – das ist der Geist, den wir kennen, die Gedanken und Strukturen, die Sammlung von Verhaltensmustern. All dies ist ‚sem‘ oder ‚mind‘-Geist. ‚Mind‘-Geist, ‚Sem-nyid‘ oder die ‚Natur des Geistes‘ ist der anfangslose, endlose, unbegrenzte Raum des Geistes. Geist, oder sem, ist in Wirklichkeit in seiner Natur nicht verschieden von der Natur des Geistes oder Sem-nyid ndash; es ist nur ein kleinerer Raum innerhalb des weiten Raumes. Erleuchtung ist, wenn die beiden denselben Geschmack haben. Das ist das essenzielle Ziel des Aro gTér sKu-mNyé.
F Muß man die Gedanken loslassen?
KD Ja, das ist ein Aspekt der Praxis. Es würde in der Praxis des sKu-mNyé sicherlich sinnvoll sein, wenn man den Gedanken ermöglichen könnte sich zu beruhigen, aber das geschieht ohnehin. Im sKu-mNyé sind ‚Gedanken‘ nicht wirklich ein Thema. Die Übungen neigen sowieso dazu, Konzeptualität aus ihrer Existenz zu sprengen.
NR Im Sinn des Dzogchen, üben wir durch die Sinne und die Sinnesfelder – weniger durch das Loslassen von Gedanken. Wir lernen die Sinne zu fixieren. Wir halten die Sinne unbewegt in Bezug auf die externe Welt. Wir benutzen die natürlichen Phänomene um uns, damit sie Teil des Prozesses werden, der zur Auflösung von Bezugspunkten führt. Wir erreichen dies durch die Praktiken der Integration mit den bewegenden Elementen: Wasser, Feuer und Luft.
KD Das ist so, weil wir immer an Bezugspunkten hängen. Wir greifen nach Bezugspunkten, um uns real zu fühlen, aber dies untergräbt eigentlich die Vitalität unseres Seins und verdunkelt die Lebhaftigkeit unserer Wahrnehmung.
F Wie soll ich nun diese Integration mit den bewegenden Elementen praktizieren? Sagen wir mit dem Wasserelement?
KD Du könntest am Meer sitzen. Oder an einem Fluss. Du fokussierst dann einen Ausschnitt auf der Oberfläche des Wassers, so dass du ihn sehr klar und scharf siehst. Dann fixierst du den Blick. Du würdest dies erreichen, indem du deine Augen davon abhältst sich zu bewegen. Die Augenmuskeln folgen üblicherweise den Bewegungen durch rückwärts und vorwärts Schnellen in der Richtung der Bewegung. Das ist es, was alles am Verschwimmen hindert, wenn du aus dem Seitenfenster eines Autos schaust.
F Ja! Ich habe das gesehen! Wenn du jemandem zusiehst, der aus dem Fenster eines Autos schaut, so springen seine Augen rhythmisch hin und her. Sie scheinen in die Richtung zu hüpfen, in die der Wagen fährt und springen wieder zurück. Und dies offensichtlich völlig unbewusst, oder?
KD Ja. Aber mit sKu-mNyé wird diese Gewohnheit in das Bewusstsein gerückt. Man wird sich dieser springenden Bewegung bewusst und man ist ständig bemüht sie einzufrieren ndash; den Blick zu fixieren. Man erkennt, wenn der Blick fixiert ist, weil das Wasser verschwimmt – die Landschaft vor der Seitenscheibe verschwimmt.
F Man könnte dies nun täglich auf dem Weg zur Arbeit praktizieren.
KD Sicher.
NR Aber es ist besonders wichtig sich zu erinnern, dass das Verschwimmen ein schnelles Verschwimmen ist und nicht ein ‚unscharfes Verschwimmen‘. Deshalb, was das Starren in das Wasser betrifft, würde das Wasser verschwimmen, weil deine Augen fixiert sind.
KD Dies passiert nicht deswegen, weil du die Oberfläche des Wassers nicht fokussierst. Dies passiert, weil sich deine Augen nicht bewegen. Dies ist eine spezifische von vielen Dzogchen Praktiken.
NR Den Eindruck, den du erhältst, ist wie ein Foto, das mit einem langsamen Kameraverschluss gemacht wurde. Dies ist einer der besten Wege, um den Blick fokussieren zu üben.
KD Die Art im Raum fokussieren zu trainieren, ist im Dzogchen, zu lernen sich wohl zu fühlen, wenn die Augen kein Objekt als Mittelpunkt haben. Das scheint anfänglich heraufordernd zu sein, aber es ist keineswegs schwierig. Es ist in der Tat leichter als zu lernen, wie man den Blick fixiert. Es gibt eine recht einfache Methode. Man streckt einen Arm aus und fokussiert den Zeigefinger. Dann, wenn der Fokus gefestigt ist, nimmt man den Arm herunter und hält den Blick. Jedes Mal, wenn die Augen auf einem entfernten Objekt ruhen, hebt man einfach wieder den Arm und re-fokussiert den Finger. Diesen Prozess solange wiederholen, bis fokussieren im Raum ein einfacher Muskelreflex wird.
F Könnte das je schlecht für die Augen sein?
KD (lacht) Nein, es ist eigentlich eine sehr gute Übung für die Augenmuskulatur.
NR Besonders wenn man die Fähigkeit entwickelt, den Blick zu fixieren und im Raum zu fokussieren. Im sKu-mNyé macht man beides auf einmal, so ist es gut beides zu üben, bevor man das Kreisen versucht.
F Es klingt, als ob das Ausführen der Übungen für einige Menschen ziemlich beunruhigend sein könnte.
KD Ja. Es könnte sein, aber nur für jemanden, der ohne die Anleitungen eines Lehrers darauf besteht, zu üben. Dies ist selbst auf der rein physischen Ebene wichtig.
NR Ich erinnere mich, als Khandro Déchen und ich in Ohio lehrten. Da war eine Dame, eine Tanzlehrerin, die in Ballet und modernem Tanz ausgebildet war. Sie war auch in Hatha Yoga, Tar’i Chi und Chi-gung ausgebildet. Sie praktizierte Aerobic, Athletik, und ‚Callanetic‘ – sie war muskulös, gelenkig und sehr, sehr fit. Sie war davon begeistert ein neues physisches System zu lernen, vor allem weil es aus dem Dzogchen Long-dé kommt, und nahm an einem Retreat teil. Sie lernte sKu-mNyé sehr schnell und leicht und am Ende des Retreats war sie geradezu enthusiastischzu praktizieren, aber sie wurde von ihrem Enthusiasmus hinweggefegt. Einige Tage später kam sie uns besuchen, mit Weh und Schmerz. Wir sagten, dass sie wirklich vorsichtig mit sKu-mNyé umgehen sollte, denn es würden Muskeln beansprucht, die sie niemals zuvor beansprucht hatte. Sie war wirklich ziemlich überrascht. Sie dachte, sie wäre so fit und gelenkig, dass sie die Übungen über die Grenzen hinaus, die wir geraten hatten, ausführen könnte.
F Also muss man wirklich sehr vorsichtig mit den Übungen sein, nicht wahr?
KD Ja. Sicherlich muss man einigen Gewahrsein haben ndash; aber das ist immer essenziell im Dzogchen. Man sollte die Übungen mit Respekt behandeln. Es wird nichts gewonnen, indem man sich anmaßt, fit und gelenkig zu sein, sodass man sehr schnell mit ihnen vorangehen kann. Selbstverständlich, wenn man in gut in Form ist, hilft es – aber jeder kann sie praktizieren, solange er relativ sanft mit sich selbst umgeht. Besagte Lady nahm an, sie hätte wegen der Vielfalt der Körperarbeit, die sie ausübte, kein Problem mit den sKu-mNyé Übungen. Ich denke, das ist es wert in Erinnerung zu behalten, welch neues physisches System man auch immer aufnimmt.
NR Ja. Ich kann mir vorstellen, dass das gleiche für sKu-mNyé Praktizierende gilt, wenn sie Hatha Yoga als eine neue Disziplin ausüben. Man hat mit Aufmerksamkeit voranzugehen und unter der Leitung eines Lehrers – dies gilt für jede Praxis innerhalb von Dzogchen und Tantra. Wir können das nicht genug betonen, besonders soweit es sKu-mNyé betrifft. Es ist auch wichtig, die Meditationsperiode mit einzubeziehen, die jeder Übung folgt. Die Periode des Hinlegens in Meditationshaltung sollte mindestens drei Mal so lang sein wie die Periode der sKu-mNyé Bewegungen.
F Hat sKu-mNyé eine Struktur, die du mit einfachen Worten erklären kannst?
KD Insgesamt gibt es 111 Übungen. Sie sind in Kategorien von Tieren eingeteilt und die Tiere beziehen sich auf die fünf Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Die Übungen imitieren nicht im Besonderen die Bewegungen von Tieren, obwohl gelegentlich eine Ähnlichkeit offensichtlich ist. Sie werden in fünf Sets von 21 – 21 für jedes der fünf Tiere – aufgeteilt. Die Tiere sind nicht Tiere, mit denen die Tibeter vertraut waren und drei sind eindeutig visionäre Tiere. Die Löwen Serien sind verbunden mit dem Erdelement, Geier mit Wasser, Tiger mit Feuer, Adler mit Luft und Khyung mit Raum.
F Khyung?
KD Khyung ist eines der visionären Tiere. Menschen sind vielleicht mehr vertraut mit dem Sanskrit Namen ‚Garuda‘. Er ist eigentlich relativ gut bekannt als das Symbol der Indonesian Airways. Der Khyung ist der Raum-Adler – er ist ein mehrfarbiger Vogel, der Hörner und Arme hat. Der Löwe ist der visionäre Schnee-Löwe ndash; eine weiße Kreatur mit wallender, grüner Mähne. Der Adler ist ebenfalls ein visionäres Tier. Er sollte eigentlich Khalding genannt werden, was Prana-Adler bedeutet.
NR Prana oder rLung auf Tibetisch, ist der subtile Atem oder ‚räumliche Wind‘, der in den ‚räumlichen Nerven‘ des subtilen Energiekörpers fließt. Diese ‚räumlichen Nerven‘ oder Tsa formen ein Muster, das sich im ganzen Körper ausbreitet.
KD rTsa sind überall im Körper: in der Achselhöhle, der ‚Ellbogenhöhle‘, innerhalb des Handgelenkes, den Handflächen, zwischen den Fingern, auf den Fußsohlen, hinter den Knien, der Innenseite der Oberschenkel, dem Magen, dem Nacken und generell in all den Zonen, die als erogene Zonen beschrieben werden.
F Sind die rTsa wie Akupunktur Meridiane?
KD Ja; in gewisser Weise, aber die Muster sind manchmal sehr verschieden von jenen der Akupunktur Meridiane und funktionieren auf verschiedene Weise. sKu-mNyé regt die rTsa an und veranlasst stagnierendes rLung sich zu bewegen. Wenn rLung sich zu bewegen beginnt, pflegen Menschen lebendig zu werden oder wachen in erstaunlicher Weise auf. Um die Analogie der Akupunktur Meridiane zu verwenden, könnte man sagen, dass sKu-mNyé wie ein Akupressur System wäre. Rhythmische physikalische Bewegungen wirken besser auf die Meridiane als Druck.
F Khandro Déchen, du sagtest dass es 111 Übungen gibt…
KD Ja, und man kann nur 105 von fünf Sets von 21 zählen.
F Ja. Und die anderen?
KD Ja, die geheimen Übungen… die sechs Drachen.
F Warum werden die Drachen geheime Übungen genannt?
KD Die Drachen Übungen werden nur jenen Studenten gelehrt, die die anderen 105 Übungen gelernt haben. Die Drachen kombinieren alle Elemente entsprechend den Gruppierungen, die die Beziehungsstile der sechs Tantras spiegeln.
F Was sind sie?
KD Krya-tantra, Upa-tantra, Yoga-tantra, Mahayoga, Anuyoga und Atiyoga oder Dzogchen. Die Drachenübungen bleiben solange geheim, bis die Studenten die anderen 105 soweit ausgeführt haben, dass sie ihr Energiesystem mit einer gewissen Genauigkeit erfahren konnten. Dies ist eigentlich ein wertvoller Schutz, denn nur jenen, die den Punkt erreicht haben, ab dem sie die Drachenübungen erlernen können, erhalten die Befugnis zu lehren. Wir beabsichtigen, niemandem zu erlauben diese Übungen zu lehren, solange er nicht wirklich das ganze Spektrum dessen, was sKu-mNyé manifestieren kann, verstanden hat.
F Gibt es etwas Allgemeines, das du über die Drachen sagen kannst, das einen Hinweis gibt, in wieweit sie sich von anderen sKu-mNyé Übungen unterscheiden?
NR Ja, die Drachen werden von männlich/weiblichen Paaren praktiziert, die Erfahrung mit sKu-mNyé Praktiken haben. Sie sind nicht sexuell im herkömmlichen Sinn des Wortes, aber sie arbeiten auf der Ebene, auf der männliche und weibliche Energien miteinander funkeln.
Der erwachende Löwe (waking lion)
Liege auf dem Rücken / die Beine soweit gespreizt als es angenehm ist / Arme 90° zur Seite gestreckt / Handflächen nach oben / Augen geschlossen /hebe gleichzeitig (mit einer schnellen Bewegung) den Oberkörper und die Beine (Beine gestreckt und im Knie fixiert)/ klatsche gleichzeitig Füße und Hände zusammen (Arme gestreckt und im Ellbogen fixiert) / öffne weit die Augen im Moment des Zusammenklatschens und schreie Ra! (das ‚R‘ rollen und wild artikulieren) / beim Zusammenklatschen von Füßen und Händen sollten sich Augen, Hände und Füße auf der gleichen Höhe befinden ndash; Füße und Hände treffen sich auf der gleichen Ebene wie die Augen und in diesem Moment ist das Gesäß das einzige was den Boden berührt / es ist wichtig, dass der Rücken absolut gerade gehalten wird / versuche, einen Winkel von 45deg; vom Boden zu erreichen, aber NICHT durch Beugen des Rückens – ein gebeugter Rücken würde zu einer Verletzung führen! / kehre in die Ausgangsposition zurück und wiederhole die Übung.
Der Geier schwebt auf dem Wind (vulture hanging on the wind)
Stehe bequem / Knie leicht gebeugt / Füße schulterbreit auseinander /Gewicht auf den Fußballen / atme ruhig und gleichmäßig / Augen weit geöffnet / im Raum fokussiert / stelle dir einen Besenstiel hinter dem Nacken vor um die Arme korrekt zu positionieren ndash; die Ellbögen darüber hängen, den Händen und Ellbögen ermöglichen dass sie herunterhängen / schüttle langsam die Finger / die Bewegung in die Hände, Handgelenke, Ellbögen und Schultern bringen/ schüttle rhythmisch und kräftig aus den Schultern heraus/ dehne die Bewegung der Schultern dermaßen aus, dass sie sich auf den ganzen Körper auswirkt / schüttle Hände und Finger schnell genug, um ihre Bewegung zu hören / beginne, den Kopf von einer Seite zur anderen zu bewegen – langsam und gleichmäßig – bewege den Kopf so weit zur Schulter als es angenehm ist /jedes Mal eins zählen, wenn der Kopf die rechte Schulter erreicht / nach 7 Drehungen des Kopfes senke ihn (in der Mitte der Bewegung) auf die Brust – hebe den Kopf wieder, um jede Schulter zu erreichen (eine wellenförmige Bewegung) / lege dich nach 7 Drehungen in der Meditationshaltung hin.
Der Tiger geht auf die Pirsch (stalking tiger)
Füße und Hände auf den Boden / Hände tragen das Gewicht des Oberkörpers / fixiere Arme und Beine in den Ellbögen und Knien / die Wirbelsäule ist ebenso fixiert (Hüften sind höher als die Schultern) fokussiere die Augen im Raum / Blick nach unten / rotiere die Hüften in horizontalen Kreisen / zeichne gleichzeitig 1 inch (2.54cm) große Kreise mit der Nase, auf einer horizontalen Ebene, jedoch in der entgegen gesetzten Richtung (wenn die Hüften im Uhrzeigersinn kreisen, sollte die Nase gegen den Uhrzeigersinn folgen) / fixiere während des Hüftkreisens Arme, Beine und Wirbelsäule / wiederhole während des Ausübens dieser Bewegungen ständig den Ton ‚Ra Sa Ra‘ als ein ‚barsches Flüstern‘.
Der Adler steigt in die Luft auf (eagle taking to the wind)
Fokussiere die Augen im Raum / stehende Position / ein Fuß ist in angenehmer Schrittweite platziert (direkt vor dem anderen Fuß) / der rechte Fuß führt / die rechte Handfläche berührt die Rückseite des rechten Oberschenkels / die linke Handfläche berührt die Vorderseite des linken Oberschenkels / entsprechend dem Fuß, der führt, sollte auf dieser Seite die Hand hinter dem Oberschenkel liegen / beide Beine im Knie fixiert / lege das Gewicht ganz auf das führende Bein und gehe einen ‚Vogelschritt‘ nach vorne (der ‚Vogelschritt‘ ist vollständig, wenn das Bein so hoch als möglich kreist) /um den ‚Vogelschritt‘ zu beginnen, schwinge ein wenig zurück, um den höchst möglichen Bogen zu erreichen /Zehen sind in ‚Ballet Art‘ gespitzt (es ist wichtig die Zehen zu strecken wenn der Fuß den Boden berührt, denn es ist nicht möglich nach vorne zu gehen wenn man mit den Fersen aufsetzt) / bei jedem Schritt vertauschen die Hände ihre Position / das bedeutet, dass das neu führende Bein eins wird mit der Hand dahinter (Rückseite des Oberschenkels) / beide Arme folgen großen Bögen,wenn sie abwechselnd die senkrechte Spitze über jeder Schulter erreichen / die Balance wird durch schnelles Ausführen dieser Übung erleichtert; wenn die Bögen von Armen und Beinen so weit als möglich gemacht werden, wenn man sich beim Zurückgehen nach vorne neigt und sich beim Nachvorgehen zurück neigt / eins wird gezählt, wenn drei Schritte nach vor und drei Schritte zurück gemacht wurden.
Der Garuda in der Hocke (crouching garuda)
Kauernde Position / lege die Hände auf Oberschenkel / Finger zeigen zurück (Richtung Magen) / Unterarme parallel zu den Oberschenkeln / Blick gerade nach vor / fokussiere die Augen im Raum / erhebe dich aus der kauernden Position 12 inches (30cm) / kreise den rechten Fuß im Uhrzeigersinn / stelle den rechten Fuß auf den Boden und kehre in die kauernde Haltung zurück /erhebe dich wieder, kreise den linken Fuß gegen den Uhrzeigersinn / wenn abwechselnd die Füße kreisen, macht die Nase abwechselnd Kreise in der gleichen Richtung wie der Fuß, aber in vertikaler Richtung / um die Balance zu halten sind Rhythmus und Tempo unbedingt erforderlich /ein Kreis mit jedem Fuß wird als eine Wiederholung der Übung gezählt.
Jede Übung wird 3, 5, 7, 9, 11, 21, 27, 49, 54 oder 111 Mal wiederholt, abhängig von Fitness und Erfahrung mit sKu-mNyé.
sKu-mNyé sollte ohne Kleidung praktiziert werden, um Empfindungen über der Oberfläche der Haut völlig zu erfahren. Kleidung behindert vor allem die Sensitivität für die energetische Atmosphäre um den Körper herum. Aber wenn man sKu-mNyé nur ausübt, um Körperhaltung, Geschmeidigkeit oder Fitness zu verbessern, kann Kleidung (ohne einengenden Bund), die anstrengenden Übungen entspricht, getragen werden. Jede Übung soll drei Mal wiederholt werden, dann niederlegen und die Empfindungen die auftauchen,erfahren; mentale Kommentare darüber sollten vermieden werden.
Nach jeder Übung die Meditationshaltung einnehmen:
Liege auf dem Rücken / spreize die Beine gerade so weit auseinander, dass sich die Innenseiten der Oberschenkel nicht berühren / Arme zeigen nach außen, mit den Händen ein wenig höher als die Schultern / Handflächen nach oben / Finger gespreizt / Augen im Raum fokussiert / Zunge schwebt im Gaumen (berührt weder den oberen noch den unteren Gaumen).