Aro Lingma (1886-1923) wurde im Feuer-Hund Jahr in Mar-Kham, der südl. Region Khams in Osttibet, geboren. Sie wurde von ihren Eltern, Jomo Pema ’ö-Zér und Rang-rig Togden, Yeshé Zértsal genannt. Khyungchen Aro Lingma war der Name, den sie von Yeshé Tsogyel als Hinweis auf das gTérma erhielt, das sie in ihren frühen Zwanzigern durch reine Vision erhalten sollte.
Sie wurde mit großer Leichtigkeit und ohne einen Laut von sich zu geben geboren. Ihre erste Handlung war ein lang ausgedehntes Zischen mit zornvoll geschürzten Lippen, als ob sie eine rTsa-lung Atemübung ausführen würde. Bei ihrer Geburt erschienen Adler am Himmel; sie stürzten herab und segelten am Eingang der Retreathöhle ihrer Eltern hin und her. Auch Himmelsphänomene erschienen bei ihrer Geburt, Wolken wie Yungdrungs und Ga’khyils. Starke Windstöße kamen auf und flauten rasch wieder ab und Sonne und Mond waren gleichzeitig am Himmel sichtbar. Ihre Mutter Jomo Pema ’ö-Zer verweilte während der Geburt im Zustand der Vision und Rang-rig Togden stand ihr körperlich bei.
Als Kind schlief Aro Lingma sehr viel und immer mit weit geöffneten Augen. Sie sprach erst im Alter von 5 Jahren, dann aber flüssig. Als junges Mädchen wanderte sie weit in die Berge in der Gegend der Meditationshöhle ihrer Eltern. Sie verschwand immer, wenn Gönner zu Besuch kamen. Manchmal verschwand sie für mehrere Tage und kam mit Berichten zurück, wie sie andere Daseinsbereiche besucht und Yeshé Tsogyel und Padmasambhava getroffen habe. Schon in sehr jungen Jahren unterrichteten ihre Eltern sie in Trülkhor Naljor (Yantra Yoga). Im Alter von 9 Jahren hatte sie gTu-mo bereits gemeistert als ihre Eltern sie Yeshé Réma nannten. Im ersten Abschnitt ihres Lebens wurde sie von Akyong Düd’dül Dorje Rinpoche und den Schülern, die sich um sie versammelten, Jetsunma Khandro Yeshé Réma genannt.
Aro Lingma war ca. 16 oder 17 Jahre, als ihre Eltern gemeinsam den Regenbogenkörper (’ja ’lus) annahmen. Sie nähte sie zusammen in einem weißen Zelt ein, nachdem sie die letzten Ratschläge, Anweisungen und Vorhersagen von ihnen erhalten hatte. Dieses Ereignis hatte einen grundlegenden Einfluss auf Aro Lingma und ließ viele verborgene Fähigkeiten reifen. Sie sammelte die Überreste ihrer Eltern ein und wanderte Richtung Nord-Kham und Golok, wo sie, wie ihre Mutter vorhergesagt hatte, einen passenden Sang-yab für die Verwirklichung eines gTérma-Zyklus finden würde, der in der Zukunft zum Wohle aller Wesen ins Dasein kommen würde.
Aro Lingma reiste von Ort zu Ort und praktizierte und lebte als wandernde Yogini. Sie hatte bei mehreren Gelegenheiten die Möglichkeit, sich anderen Gruppen von Praktizierenden anzuschließen, aber sie beabsichtigte alleine zu reisen. Manchmal gab sie vor taub zu sein, um zu vermeiden mit Leuten zu sprechen, vor allem, wenn es religiöse Menschen waren. Sie sprach immer mit Kindern und gewöhnlichen Menschen besonders, wenn sie Schwierigkeiten zu haben schienen; aber sie vermied religiöse Menschen, wo sie nur konnte. Aro Lingma benötigte ca. ein Jahr, um Nord-Kham und Golok zu erreichen, wo sie, wie vorhergesagt, ihren Sang-yab treffen würde. Dort traf sie ’a-Shul Pema Legden, der Mönch und Schüler von Khalding Lingpa war. Sie erkannte sofort, dass ’a-Shul Pema Legden das Potential hatte, Vision zu verwirklichen, und so reisten sie zusammen nach Südtibet. ’a-Shul Pema Legden gab seine Mönchsgelübde auf und wurde Aro Lingmas Sang-yab. Während ihrer Reise nach Südtibet machte Aro Lingma mehrere grundlegende visionäre Erfahrungen von Yeshé Tsogyel, in welchen sie die Lehrzyklen von Praktiken verwirklichte, die ihre Mutter vorhergesagt hatte. Diese Lehr- und Praxiszyklen wurden bekannt als Aro gTér – die Lehre der Mutter-Essenz-Linie. Diese Lehren bestehen bis heute als eine essentielle und extrem unkomplizierte Sammlung von Belehrungen und Übungen.
Aro Lingma war ein gTértön der reinen Vision, eine Entdeckerin spiritueller Schätze. Sie erhielt mehrere Praxiszyklen direkt von Yeshé Tsogyel, dem weiblichen Buddha und Gefährtin von Padmasambhava. Diese Praktiken waren einzigartig und außergewöhnlich, weil sie aus Formen von Gewahrseinswesen (Meditationsgottheiten) bestanden, die alle Manifestationen von Padmasambhava und Yeshé Tsogyel waren. Neben diesen Praktiken gab es Methoden der drei Serien des Dzogchen und deren begleitenden psycho-physischen Praktiken. Aro Lingma war von ihrer Mutter angeraten worden, diese im Geheimen zu praktizieren und sie nur an ihre Tochter weiter zu geben. Es würde dann ihre Tochter sein, die diese Lehren der Welt übertragen würde.
Unglücklicherweise und durch ungünstige Umstände bekam Aro Lingma einen Sohn, und die Blutlinie wurde unterbrochen. Ihr Sang-yab (spiritueller Ehemann) starb und sie nahm niemals einen anderen Gefährten. Ihre Mutter hatte ihr geraten, dass sie nur einen Sang-yab haben sollte. Sie riet ihr auch, dass sie nur ein Kind haben sollte; andernfalls würde ihr Leben beträchtlich verkürzt werden und sie würde nur wenig Zeit haben, die spirituelle Ausbildung ihrer Tochter sicher zu stellen. Ihr Sang-yab ’a-Shul Pema Legden war ein alter Lama. Er starb als Aro Lingma noch ziemlich jung war und bevor sie eine Tochter empfangen hatte. Dies hätte bedeuten können, dass die gTérma-Zyklen Aro Lingmas von der Welt verschwunden wären, aber durch ihre yogischen Kräfte war sie in der Lage, kurz vor ’a-Shul Pema Legdens Tod zu empfangen. Sie führte ihn durch die Bardovisionen des Zwischenzustandes zwischen den Leben und gebar ihn als ihren eigenen Sohn wieder – Aro Yeshé. Es war für ’a-Shul Pema Legden aufgrund seiner eigenen verbliebenen karmischen Verdunklungen nicht möglich, als Frau wiedergeboren zu werden und so ging die Gelegenheit, die Lehren weithin bekannt zu machen, verloren. Aro Lingmas Mutter hatte ihr Ratschläge für den ungünstigen Fall erteilt, einen Sohn zu gebären. Durch ein exaktes Einhalten dieser Anweisungen war es ihr möglich, die Lehren an ihren Sohn weiterzugeben. Sie erschien ihm in visionärer Form, nachdem sie den Regenbogenkörper angenommen hatte, als Aro Yeshé im Alter von 8 Jahren im Einzelretreat war.