Yeshé Tsogyel sagte: „Eine Aktivitätsemanation von mir wird in Tsang erscheinen und sie wird unter dem Namen Jomo Menmo bekannt werden“.
Diese Linienzeichnung hier wurde von Khandro Déchen auf der Basis einer Skizze von Ngak’chang Rinpoche und Naljorma Dzü’drül Pamo angefertigt. Sie ist deshalb ungewöhnlich, weil sie Jomo Menmo als reife Erwachsene und nicht als junges Mädchen zeigt. Lamas werden nämlich üblicherweise in jenem Alter abgebildet, in dem sich das für sie wichtigste Lebensereignis abspielte – und Jomo Menmo entdeckte ihr gTérma in sehr jungen Jahren. Diese Linienzeichnung jedoch zeigt sie in jenem Moment, kurz bevor sie zusammen mit ihren beiden hervorragenden Schülerinnen in die Himmelsdimension eintrat.
Jomo Menmo Pema Tsokyi (Jom-mo sMan-mo Padma mTsh-sKyid), die Inkarnation von Ma-gÇig Labdrön, wurde im männlichen Erd-Affen-Jahr (1248) geboren und trat 1283 in die Himmelsdimension ein. Sie wurde in Zarmolung geboren, in der Nähe jener Höhle, in der sich sowohl Padmasambhava als auch Yeshé Tsogyel einst aufhielten. Zarmolung liegt in einem Gebiet von Tibet, das É-yül genannt wird, was ‘ursprüngliches Gewahrseins-Land’ heisst. Ihr Vater, Dorje Gyalpo, war ein vollendeter Tantrischer Praktizierender. Ihre Mutter war eine Dakini mit Namen Padma Paltsum. Ihre Eltern nannten sie Pema Tsokyi, was soviel wie ‘Lotus des Ozeans’ heisst.
Zu Beginn ihrer Pubertät (im Frühling 1261) schlief sie einmal, während die Yaks und Dirs auf den hochgelegenen Weiden grasten, auf der Wiese ein. Die alpine Wiese wurde vom Déwachen Puk überdacht – der Höhle der grossen Ekstase, in der Padmasambhava und Yeshé Tsogyel Verwirklichung demonstriert hatten. Der Ort war unter dem Namen Kyungchen-ling – Ort des grossartigen Garuda – bekannt. Der Garuda ist der ‘Raum-Adler’, welcher durch seine Existenz den ungeborenen, nie endenden, immer präsenten Zustand der Erleuchtung verkörpert, der das Fundament der Dzogchen-Lehren und der Dzogchen-Praxis ist. Es war der Name dieses Platzes, nach dem ihre Inkarnation Khyungchen Aro Lingma ihren Namen als gTertön von Yeshé Tsogyel in reiner Vision im 19. Jahrhundert erhielt.
Während sie schlief, hatte sie einen luziden Traum, in dem sie eine tiefe Vision erlebte. Eine sonore Stimme weckte sie aus ihrem Traum-Zustand auf und setzte sie in einen Zustand reiner, vollständiger Präsenz. Sie fand sich vor dem Eingang einer geheimen Höhle in den Bergen stehend. Sie trat augenblicklich und mit einem Gefühl von eifrigem Enthusiasmus in die Höhle ein; sie wusste nicht, was sie dort vorfinden würde, aber sie war erfüllt von einem Gefühl von Immanenz frei von Hoffnung und von Angst. Nachdem sie sich im Innern der Höhle befand, öffnete sich ein Leichenacker, auf dem sich Yeshé Tsogyel in einer traumartigen Vielfältigkeit von Erscheinungen manifestierte. Diese Visionen verschmolzen ineinander, bis sie zu der Form von Yeshé Tsogyel als Dorje Phagmo zusammenwuchsen. Dorje Phagmo heisst ‚unzerstörbare Sau‘ oder ‚Donnerkeil-Sau‘. Dorje Phagmo ist die ekstatische, wilde Dakini, deren Kopf vom Kopf einer Sau überragt wird und deren schriller Schrei Illusionen zerschlägt. Der Ton des Schreis vernichtet alle Konzepte und ergibt sich sehr klar der direkten Bedeutung von ro-gCig-, dem einen Geschmack von Leere und Form. Dorje Phagmo war von vielen anderen Dakinis umgeben; sie brachten ein Tsog-Opfer dar. In dem Moment, als sie Yeshé Tsogyel als Dorje Phagmo erkannte, wurde ihr ein kompletter Lehrkörper offenbart; diese Belehrungen heissen ‚Die gesammelten Geheimnisse der Himmelstänzerinnen‘. Sie erfasste deren Bedeutung im Moment ihrer Erscheinung. Sie realisierte, dass sie diese Belehrungen in vollständiger Geheimhaltung praktizieren sollte, bis sie das Resultat erreicht hätte. Sie wusste unmittelbar, dass es kein Hindernis gegen die Erfüllung dieser Praxis geben würde. Mit dem Auftauchen dieser Erkenntnis löste sich die Vision der Dorje Phagmo in Chö-nyid (chos-nyid – Dharmata, der Raum der Realität) auf.
Pema Tsokyi wachte aus der Vision auf und setzte ihren Alltag fort. Aber wo auch immer sie hinging, gab sie Belehrungen als spontaner Ausdruck ihres Geistes, ihrer Stimme und ihres Körpers. Sie gab Geist zu Geist Belehrungen als natürlicher Ausdruck ihrer Präsenz. Sie sang Belehrungs-Lieder als natürlicher Ausdruck ihrer Kommunikation und führte Vajra-Tänze als natürlicher Ausdruck ihrer Haltung auf. Sie konnte in Steinen Fuss- und Handabdrücke hinterlassen, was sowohl günstige als auch ungünstige Konsequenzen hatte. Viele gewöhnliche Leute waren verblüfft und erkannten, dass sie eine realisierte Yogini war, aber die Geistlichen schreckten die Leute von ihr ab. Sie wurde als Verrückte, die von einem Dämon besessen sei, verleumdet. Sobald die Geistlichen die Angst aufgewühlt hatten, wurden die Leute gegenüber Pema Tsokyi befangen. Die gewöhnlichen Leute verloren ihren natürlichen Glauben an Pema Tsokyi. Sie waren unfähig, als Opposition zum geistlichen Konservatismus, der sie als Dämonin bezeichnete, Vertrauen in ihre eigene spontane Hingabe zu haben. Die Leute begannen dann auch, sie zu beschuldigen; sagten, dass sie beim Schlafen in den Bergen von einem ‘menmo’ besessen worden sei. Von da an wurde sie als Jomo Menmo bekannt.
Wegen der kranken Gefühle, die die engstirnigen Geistlichen ihr gegenüber hatten, entschloss sie sich, ihr Heim und ihre Familie zu verlassen und kehrte nie mehr zurück. Nach einer Zeit des Herumwanderns erreichte sie La-yak-pang-drong im westlichen Teil von Lho-drak, wo sie einen grossen Nyingma Visionär traf – den gTértön Chö-kyi Wang-chuk (guru rin po che chos kyi dBang phyug). Guru Chöwang war einer der fünf höchsten Nyingma Visionäre und einer der drei Haupt-Emanationen von Padmasambhava. Sobald Chökyi Wang-chuk Jomo Menmo sah, wusste er, dass sie die perfekte Sang-yum war, mit der er seine Realisation zur Erfüllung bringen konnte. Er war dann in der Lage, das ‚innerste geheime Herzessenz Tantra der acht zornvollen Gewahrseinswesen‘ (bKa’a brGyad gSang-ba yong rDzogs man-ngak-gi rGyud chen po) zu übersetzen.
Als Jomo Menmo Guru Chö-wang verliess, wies er sie an, durch Tibet zu reisen und den Menschen auf verborgene Weise zu nützen. Den ‚Menschen auf verborgene Weise nützen‘ ist eine Aktivität, die speziell den Frauen liegt und beinhaltet keine Art von beschreibbarer Methode. Verborgene Aktivität kann jede menschliche Möglichkeit umfassen und kann für alle vollständig unsichtbar sein, ausser, wenn sie für diesen Stil der Übertragung und Belehrung offen sind. Jomo Menmo verbrachte ihr Leben auf diese Weise als wandernde Yogini; sie veränderte das Leben der Leute unwiderruflich einzig auf Grund der Tatsache, dass diese sich zufällig in ihrer Gegenwart befanden. Auf diese Weise brachte sie viele Linien weiblicher Praktizierender hervor. Zwei von ihnen traten mit ihr zusammen in die Himmelsdimension ein, als Jomo Menmo die Welt verließ. Im Alter von 36 Jahren stieg sie auf den Gipfel des Tak-lha-ri (Berg des Himmels-Tigers) und am zehnten Tag des siebten Monats (4. August 1283) brachten sie und ihre zwei Schülerinnen einen Tsog dar; daraufhin traten sie in die Himmelsdimension ein. Diese beiden Schülerinnen inkarnierten im frühen zwanzigsten Jahrhundert als A-shé Khandro und A-yé Khandro – jene beiden Schwestern, die die Sang-yums von Aro Yeshé, dem Sohn von Kyungchen Aro Lingma, waren.
Jomo Menmos ausserordentliches gTérma kehrte in den Geist von Yeshé Tsogyel zurück und wurde später von Rig’dzin Pema Do-gnak Lingpa, einer Inkarnation von Guru Chö-wang, wieder entdeckt.